Wild-West an Europas Börsen?
Unterm Strich
Wild-West an
Europas Börsen?
Von Claus Döring
In den USA notierte Unternehmen haben höhere Börsenbewertungen. Amerikanische Kapitalmarktregeln deshalb in Europa zu kopieren, wie aktuell diskutiert, wäre verkehrt und würde mühsam erkämpfte Aktionärsrechte aushöhlen.
Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Diese Regel, etwas vornehmer auch als Matthäus-Effekt bezeichnet (Matthäus-Evangelium: „Wer hat, dem wird gegeben“), gilt auch am Kapitalmarkt. Die enorme Liquidität am amerikanischen Aktienmarkt sorgt für einen zunehmenden Bewertungsaufschlag von US-Unternehmen gegenüber europäischen Wettbewerbern und lockt damit immer mehr Emittenten wie auch Investoren an die US-Börsen. Als Beispiel werden oft die Mineralölkonzerne angeführt, da sie sich hinsichtlich Märkten und Produkten ähneln und insofern gut vergleichen lassen. Während Chevron und ExxonMobil auf dem US-Markt mit dem sechsfachen Cashflow bewertet werden, bringen es die Börsenbewertungen von Total aus Frankreich und von BP und Shell aus Großbritannien nur auf den vierfachen beziehungsweise dreifachen Cashflow. Der Europa-Malus treibt globale Konzerne um und nun auch Börsenbetreiber und Finanzaufseher in Kontinentaleuropa und London (vgl. BZ vom 4. Mai).
Total-Vorstandschef Patrick Pouyanne hat sich jüngst gegenüber Investoren über den Bewertungsabschlag gegenüber Chevron beklagt, obwohl man ebenso profitabel wirtschafte wie der amerikanische Konkurrent. Als wesentlichen Grund dafür machte er die Börsennotierung von Total in Europa aus – um zugleich zu beteuern, dass natürlich nicht an eine Verlagerung der Primärnotierung von Paris in die USA gedacht werde. Der Sitz und die Börsennotierung seien auch eine politische Frage, räumte der Franzose ein. Weniger patriotisch war da bekanntlich Linde, bis Ende Februar 2023 mit 150 Mrd. Euro schwerster Dax-Wert. Der deutsche Industriegase-Konzern wollte den Bewertungsabschlag gegenüber US-Konkurrenten, der zudem noch durch eine absurde und international einzigartige 10-%-Kappungsgrenze im Dax verstärkt wurde, nicht länger hinnehmen, und kehrte der Frankfurter Börse den Rücken. Dass die nun von der „Dax-Belastung“ befreite und nur noch in New York notierte Linde-Aktie seither durchgestartet wäre, lässt sich freilich nicht behaupten.
Eine Verlagerung des Listings und des Firmensitzes in die USA beschäftigte 2021 auch schon die niederländisch-britische Royal Dutch Shell. Doch am Ende wurde „nur“ die Konzentration auf London beschlossen – damals noch nicht ahnend, dass der mit Abstand führende europäische Finanzplatz gewaltig unter Druck geraten und unter Abwanderung nach Übersee leiden würde. Es ist müßig darüber zu spekulieren, wie stark der Brexit als Katalysator den Bedeutungsverlust der Londoner Börse beschleunigt hat. Die Zahlen, die jetzt die britische Finanzaufsicht mit ihren Reformüberlegungen zum britischen Listing-Regime veröffentlicht hat, sprechen für sich: Die Londoner Börse versammelt heute nur noch 3,1% der Marktkapitalisierung globaler börsennotierter Konzerne gegenüber 5,8 % vor zehn Jahren. Der drohende Verlust hochkarätiger IPO-Kandidaten wie aktuell der Softbank-Tochter Arm kommt noch dazu und ruft die britische Finanzaufsicht auf den Plan.
Deren Vorschläge gehen freilich in die falsche Richtung und zielen darauf ab, vermeintliche Vorteile der US-Regulierung, insbesondere geringere Aktionärsrechte, auch in London zu etablieren. Ähnliche Vergehen an der Kapitalmarktkultur plant mit der Einführung von Mehrstimmrechten bekanntlich auch die deutsche Bundesregierung. London beispielsweise will überdies das Votum der Aktionäre bei bestimmten Transaktionen abschaffen und bei IPOs darauf verzichten, für drei Jahre einen geprüften Abschluss vorzulegen. Es ist Zeit, dass sich die großen institutionellen Investoren als Treuhänder von Aktionärsvermögen dagegen wehren, am US-Kapitalmarkt übliche Wild-West-Methoden auch in Europa einzuführen.