Wo die Vergangenheit noch Zukunft hat
Notiert in London
Wo Vergangenheit Zukunft hat
von Andreas Hippin, London
Kulturpessimismus ist in Westeuropa eine weit verbreitete Einstellung. Auch gut ein Jahrhundert nachdem Oswald Spengler sein Werk „Der Untergang des Abendlands“ vorstellte, hat sich daran nicht viel geändert. Das britische Empire hat seinen Untergang schon hinter sich. Durch die Ruinen, die davon übriggeblieben sind, trampeln Reisegruppen, die oft weder mit der zugrundeliegenden Geschichte noch der Kultur etwas anfangen können. Bei English Heritage, einer der Institutionen, die sich um den Erhalt von historischen Stätten wie Stonehenge befassen, will man sich nicht damit abfinden, dass sie von den Besuchern vor allem als Selfie-Kulisse wahrgenommen werden. Doch es ist nicht leicht, die Menschen aus dem unsichtbaren Kokon herauszuholen, in den sie sich mit ihren Westentaschencomputern zurückgezogen haben.
Man möchte die Menschen anregen, die Orte mit allen Sinnen wahrzunehmen, um ähnliche Erfahrungen zu machen wie ihre Vorgänger, die dort einst beteten, kämpften oder einfach nur wohnten. Allerdings kann man nicht an jedem Ort eine spektakuläre Multimediainstallation anbieten, die mit der sensorischen Überreizung Schritt halten kann, der wir jeden Tag ausgesetzt sind. Das Budget von English Heritage ist begrenzt. Durch die Idee, auf die man gekommen ist, wird es nicht groß belastet: An vielen Standorten wurden Schilder im Stil der Verbotsschilder aufgestellt, mit denen einst das Ministry of Works das Land überzog. Doch statt Warnungen und Verboten wie „Wer dieses Denkmal beschädigt oder verunstaltet, wird strafrechtlich verfolgt“ enthalten sie irritierende Botschaften wie „Halt! Ziehen Sie ihre Schuhe aus und stehen Sie dort, wo sich Geschichte ereignet hat“ oder „Achtung! Hier hallen Echos der Vergangenheit nach.“
Man sieht sie etwa in Mount Grace in North Yorkshire, einem mittelalterlichen Kartäuserkloster, dessen Überreste eigentlich dem National Trust gehören, aber der English Heritage verwaltet. Dort gibt es den neben den Ruinen des Klosters ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtetes Herrenhaus im Arts-and-Crafts-Stil mit einem großen Garten. Nicht weit entfernt befinden sich die spektakuläre Ruine der ehemaligen Zisterzienserabtei Rivaulx und die nach dem englischen Bürgerkrieg zerstörte Burg Helsmey Castle. Dieser Teil von North Yorkshire ist heute eine friedliche Gegend, auf deren engen Straßen man immer damit rechnen muss, hinter der Kurve von einem Schaf überrascht zu werden. Die Ruinen zeugen von gewaltsamen Umbrüchen, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Anfassen ist nicht verboten. Kinder können darauf herumklettern. Für sie gibt es an solchen Orten viel zu erforschen. Am Hadrianswall, noch weiter im Norden, lassen sich die Spuren ertasten, die die Meißel der Steinmetze einst hinterlassen haben.
Natürlich sind die Schilder von English Heritage nur ein Angebot. Aber vielleicht regen sie ja den einen oder anderen dazu an, den Alltag für einen Moment hinter sich zu lassen. Es geht auch anders: In den Gärten der Herrenhäuser und Schlösser finden sich Pflanzen, die es dort früher schon gegeben hat. Auf Carisbrooke Castle blüht etwa „Boule de Neige“, eine Züchtung aus dem Jahr 1837, deren schweren Duft die Menschen, die dort gelebt haben, wiedererkennen würden. Im Klostergarten von Mount Grace sieht man, welche Pflanzen die Mönche dort angebaut haben. Man kann die Welt durch dieselben Fenster betrachten, durch die einst Charles Darwin blickte, wenn man Down House in Orpington besucht.
Für alle, die länger an einem Ort bleiben wollen, bietet English Heritage recht opulente Ferienwohnungen bzw. -häuser an. In Mount Grace kann man sich in das ehemalige Haus des Priors einmieten. Dort hat man die Ruinen abends ganz für sich und wird morgens vom Geschrei der Fasane geweckt. Es ist eine Oase der Ruhe ohne Mobilfunkempfang. Bis zum nächsten Pub sind es 30 Minuten zu Fuß durch Wald und Wiesen, auf denen Schafe stehen. Auch in Rivaulx gibt es ein gut ausgestattetes Cottage.
Dank Institutionen wie English Heritage bekommen viele Menschen in Großbritannien einen neuen Zugang zur Geschichte des Landes. Das gilt auch für Zuwanderer und ihre Nachkommen, die solche Angebote gerne nutzen. Sie schätzen vermutlich, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfindet, die nicht vor großen Namen haltmacht, wenn es um Themen wie auf dem Rücken von Sklaven erworbenen Reichtum geht. Auf diese Weise leistet die Bewahrung historischer Stätten viel für eine bessere Zukunft.