Finanzplätze im Wachstumsdilemma
Finanzplatzwettbewerb
Standorte im Wachstumsdilemma
Gute Finanzplatzstrategien sorgen für Stabilität, ohne Wachstum zu verhindern. Die Schweiz sucht diesen Königsweg, den es vielleicht gar nicht gibt.
Von Daniel Zulauf, Zürich
Die Schweiz braucht eine sichere UBS. Aber gern hätte das Land auch eine Großbank, die international erfolgreich bleibt, der heimischen Wirtschaft den maximalen Nutzen stiftet und viele gut bezahlte Arbeitsplätze schafft. Nur: Ein Finanzplatz, der das Wachstum priorisiert, kann Sparern und Anlegerinnen nicht gleichzeitig den bestmöglichen Schutz garantieren.
Finanzmarktaufseher und Regulatoren sind daher gezwungen, je nach politischer Vorgabe, eine Route zwischen Stabilitätssicherung und Wachstumsförderung zu wählen. Forscher der Bank of England haben das Dilemma unter den Bedingungen eines intensiven, internationalen Standortwettbewerbs spieltheoretisch modelliert und dargestellt. Gerade für die Schweiz sind die Erkenntnisse aus aktuellem Anlass von einiger praktischer Relevanz.
Bald geht’s los
Voraussichtlich im Mai kommt das Maßnahmenpaket von Finanzministerin Karin Keller-Sutter „zur Stärkung und Weiterentwicklung des Too-big-to-fail-Dispositivs“ in die Anhörung. Bevor die 22 geplanten Maßnahmen umgesetzt werden sollen, ist eine Verschärfung der Kapitalverordnung für systemrelevante, internationale Banken vorgesehen. Sie soll deren Widerstandskraft stärken und damit die Risiken für die Steuerzahlenden, den Staat und die ganze Volkswirtschaft vermindern.
Dabei geht es vor allem um die UBS. Sie hat sich in dem politisch aufgeladenen Thema bislang wohlweislich zurückgehalten, mahnt aber gleichwohl, dass allfällige Kapitalanpassungen „zielgerichtet, verhältnismäßig und international abgestimmt“ sein müssten. Zu berücksichtigen seien insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit und die volkswirtschaftlichen Kosten für die Schweiz und ihren Finanzplatz.
Selbstredend lobbyiert die Bank abseits der Öffentlichkeit heftig gegen zusätzliche Kapitalauflagen. Nicht selten zur Sprache kommt auch das Szenario einer Schweiz ohne die UBS. Entweder weil sie selbst das Weite sucht. Oder weil übermäßige Kapitalauflagen ihren Börsenwert so stark dezimieren, dass sie zum Übernahmeobjekt für andere Banken wird.
Sitzverlegung als Drohung
Die Eigentümer lobbyieren mit: Lars Förberg, Partner der schwedischen Investmentfirma Cevian, die Ende 2023 eine Milliardeninvestition in UBS-Aktien publik gemacht hatte, sagte der „NZZ am Sonntag“ im Februar auf die Frage, ob er eine Sitzverlegung begrüßen würde: „Die Schweiz ist gut für die UBS, und die UBS ist gut für die Schweiz.“
Postwendend folgt die Drohung: Nordea, die schwedische Großbank, die ihren Hauptsitz 2018 nach Finnland verschoben hat und an der Cevian ebenfalls beteiligt ist, habe Schweden Steuereinnahmen gekostet. Deshalb würden dort viele den Wegzug der Bank bedauern. Hingegen sei Finnland „sehr glücklich“ über den Zuzug. Und das, obwohl Nordea gemessen an der Wirtschaftsleistung Finnlands sogar noch größer sei als die UBS für die Schweiz.
Gefahr für die Finanzstabilität
So redet Förberg dem internationalen Wettbewerb der Finanzplätze das Wort, die um die Gunst großer, mobiler Banken buhlen. Doch dieser Wettbewerb hat das Potenzial, die Finanzstabilität zu unterlaufen. Das aber liegt nicht im langfristigen Interesse der Eigentümer. Die Forscher der Bank of England zeigen in ihrem Modell, was geschehen könnte, wenn die Regulatoren von Finanzplätzen nebst ihrem Stabilitätsauftrag auch ein Wachstumsziel verfolgen müssen.
Gefangen in diesem Dilemma, könnten sich die Behörden gezwungen sehen, das Stabilitätsziel zugunsten des Wachstumsziels zu lockern. Das Szenario wird wahrscheinlicher, je weniger sich die Banken zu ihrem bestehenden Standort bekennen. Für die Banken ist der Wettbewerb zwischen Finanzplätzen ein zweischneidiges Schwert. Standorte, die bekannt dafür sind, die Wünsche der Banken zu erfüllen, drohen schnell in den Verdacht zu geraten, instabil zu sein – zum Schaden von Aktionären, Gläubigern und nicht zuletzt der Kunden. Banken auf solchen Finanzplätzen genießen zwar mehr Freiheiten, aber sie könnten sich genötigt sehen, fehlendes Vertrauen in die Regulierung durch dickere Kapitalpolster zu kompensieren.
Zwischen Himmel und Hölle
Die Forscher der Bank of England folgern, dass Banken sich und ihren Aktionären einen Gefallen tun könnten, wenn sie, statt mit der Sitzverlegung zu bluffen, die Qualitäten des Standorts in seiner Gesamtheit anerkennen und sich zu diesem bekennen würden. Die Logik dahinter: Ein Finanzplatz mit einer überdurchschnittlich strengen Regulierung muss auch für ambitionierte Banken keine Hölle sein. Ebenso wenig muss ein Platz mit lockeren Regeln nicht der Himmel sein. Am besten geht es allen irgendwo dazwischen.
Dass sich ausgerechnet die Bank of England dem Thema widmet, kommt nicht von ungefähr. Seit 2023 ist die Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes London ein expliziter Auftrag der Aufsichtsbehörde Prudential Regulation Authority. Zwar handelt es sich dabei um ein Ziel, das dem Hauptauftrag der Stabilitätssicherung nachgelagert ist. Doch in einer Welt, in der die globale Festlegung minimaler Stabilitätsstandards immer schwieriger wird, kann auch die Hierarchie der behördlichen Ziele schnell verschwimmen.
Spielraum für politische Interpretation
Auch im schweizerischen Bundesgesetz über die Finanzmarktaufsicht heißt es unter Artikel 4: „Die Finanzmarktaufsicht bezweckt nach Maßgabe der Finanzmarktgesetze den Schutz der Gläubigerinnen und Gläubiger, der Anlegerinnen und Anleger, der Versicherten sowie den Schutz der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte. Sie trägt damit zur Stärkung des Ansehens, der Wettbewerbsfähigkeit und der Zukunftsfähigkeit des Finanzplatzes Schweiz bei.“
Zwar ist die Förderung von Wachstum in der Schweiz kein eigenständiges aufsichtsrechtliches Ziel, doch der erwähnte Paragraf lässt Spielraum für politische Interpretationen. Bis vor rund zehn Jahren stand die Schweizer Finanzmarktaufsicht als Wachstumsbremserin für den Finanzplatz unter politischem Dauerbeschuss. Das hat sich mit dem Credit-Suisse-Debakel grundlegend geändert.
Deregulierung im Trend
International stehen die Zeichen aber wieder klar auf Deregulierung. Für die Schweiz stellt sich deshalb nun die drängende Frage, wie sie ihre Stabilitätsziele mit der großen UBS in diesem Umfeld erreichen soll und kann. Die Forscher der Bank of England konstatieren, dass die Wahrscheinlichkeit einer kompetitiven Deregulierung zunimmt, wenn mehrere Finanzplätze gleichzeitig Wachstumsziele avisieren. Erst recht, wenn ein eher für Stabilität bekannter Finanzplatz das Wachstum stärker akzentuiert.
Die Jäger orientieren sich naturgemäß am weltweit größten Finanzplatz New York. Neben London haben unter dessen Verfolgern auch Plätze wie Hongkong und Singapur explizite Wachstumsziele. Die Abstände zwischen den Finanzplätzen sind kleiner geworden. Es bleibt abzuwarten, wie sich dies auf den Wettbewerb auswirkt. Für die Schweiz bleibt die Aufgabe in jedem Fall knifflig.