93 Prozent für Rückkehrer Reitzle
Von Joachim Herr, MünchenEin Traumergebnis ist das nicht. Vor allem nicht für Prof. Wolfgang Reitzle (67), dem nur das Beste gut genug ist. Mit 92,88 % Ja-Stimmen wählte die Hauptversammlung den Rückkehrer in den Aufsichtsrat von Linde. Danach bestimmten ihn die Kontrolleure und Ratgeber zum Vorsitzenden. Reitzles Ergebnis relativiert die Quote, die das andere neue Mitglied, Dr. Victoria Ossadnik, erzielte: sagenhafte 99,65 %. Die 1968 geborene Physikerin und Geschäftsführerin von Microsoft Deutschland stellte sich den rund 2 200 Aktionären frisch und forsch als begeisterte Technikerin vor – und als “Mutter von zwei wunderbaren und sehr energetischen Kindern”.Reitzle verzichtete darauf, kurz über sich zu reden. Er saß in der ersten Reihe im Publikum und lächelte. Die meisten Aktionäre – knapp zwei Drittel des Grundkapitals waren vertreten – kennen ihn ohnehin: Bis Mai 2014 war er elf Jahre Vorstandsvorsitzender von Linde. Der Glanz dieser Zeit scheint noch immer. Daniel Bauer von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger erinnerte sich mit Freude: “Sie sind einer der Erfolgsgaranten in der letzten Dekade.” Kaum jemand wisse so viel über das Unternehmen. Reitzle sei deshalb eine Verstärkung. Emotionale MomenteDaniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, bekannt für eher kühle und strenge Auftritte, erlaubte sich eine emotionale Bemerkung: “Ich freue mich.” Überrascht habe sie Reitzles Rückkehr allerdings nicht. “Uns war allen klar, dass Sie es ohne uns, also Linde, nicht lange aushalten können.”Den Posten als Aufsichtsratschef tritt Reitzle am 21. Mai an, exakt nach dem Ende der Abkühlfrist von zwei Jahren. Wenn es jetzt gleich gewesen wäre, hätte sogar Bergdolt beide Augen zugedrückt. Ihr sei es vielmehr darauf angekommen, dass Reitzle die Zahl seiner Engagements reduziert: “Sonst hätte ich mir Gedanken machen müssen, ob Sie nicht mit zu vielen Aufgaben belastet sind.”In der kommenden Woche verzichtet Reitzle auf der Hautpversammlung des Baustoffkonzerns LafargeHolcim auf eine Wiederwahl als Co-Vorsitzender des Verwaltungsrats. Und sein Mandat als Aufsichtsrat des Weinhändlers Hawesko gibt er ebenfalls bald auf. Aktionärsvertreter Hans-Martin Buhlmann findet das nicht richtig: Warum werde geschimpft, wenn jemand so fleißig sei, fragte er. “Wenn einer Erfolgsleistung bewiesen hat, kann er gar nicht in genug Aufsichtsräten sein.” Dafür bekam Buhlmann aber nur spärlichen Applaus.Manfred Schneider (77) hatte ein Kürzertreten Reitzles als Bedingung gestellt, damit dieser sein Nachfolger als Aufsichtsratschef werden kann. Nüchtern formuliert lautete das auf der Hauptversammlung so: “Der Aufsichtsrat hat sich bei dem Kandidaten vergewissert, dass er den erforderlichen Zeitaufwand erbringen kann.”Aber auch Schneider hatte seinen emotionalen Moment. Er machte keinen Hehl daraus, dass ihn sein Abschied von Linde bewegt – nach 15 Jahren im Aufsichtsrat und 13 Jahren an der Spitze. Die Laudatio hielt Michael Diekmann, der stellvertretende Aufsichtsratschef. Eine Ära gehe mit Schneiders Abschied nicht nur für Linde zu Ende. “Die große Bühne der deutschen Wirtschaft wird ein Stück leerer.” Ein Souverän der deutschen Aufsichtsratspolitik trete ab, sagte Diekmann. Ein vergiftetes Lob?Schneider fing sich schnell und reagierte mit norddeutschem Humor: “Irgendwann muss jeder mal aufhören.” Linde sei “in guter Verfassung, das Management in Ordnung, und der Aufsichtsrat kann nur besser werden, wenn ich jetzt ausscheide”.Das Management in Ordnung? Klang da Kritik an Reitzles Nachfolger Wolfgang Büchele an? Der Fall des Aktienkurses und verfehlte Geschäftsprognosen bekümmern jedenfalls die Aktionäre. Bergdolt monierte Patzer in der Öffentlichkeitsarbeit. Das Ergebnis in der Abstimmung darf Büchele aber getrost als Ja für seine Strategie deuten: Der Vorstand wurde mit 99,6 % entlastet. Ob das Reitzle neidisch macht?