Befreiungsschlag für JD.com
nh – Der persönliche Ruf ist zwar ramponiert, aber das geschäftliche Lebenswerk nicht ruiniert: In der chinesischen Technologieszene nimmt man mit großer Erleichterung zur Kenntnis, dass der Gründer und Chef des zweitgrößten heimischen E-Commerce-Anbieters JD.com, Richard Liu (45), einer weiteren strafrechtlichen Verfolgung in den USA wegen einer möglichen sexuellen Straftat entgeht. Die Staatsanwälte in der amerikanischen Großstadt Minneapolis haben nach monatelangen Ermittlungen beschlossen, keine Anklage gegen Liu zu erheben.Im Gegensatz zu der aufsehenerregenden Festnahme der Finanzchefin des chinesischen Technologiekonzerns Huawei, Meng Wanzhou, Anfang Dezember in Kanada birgt das Verfahren keinen politischen Zündstoff zwischen China und den USA. Allerdings hätte eine Anklageerhebung gegen Liu im Zweifelsfall ebenfalls heikle Fragen einer Auslieferung beziehungsweise einer Präsenz Lius bei einem Gerichtsverfahren in den USA ausgelöst. Liu war als Teilnehmer eines auf chinesische Topmanager ausgerichteten universitären Lehrgangs an der University of Minnesota nach einer Anzeige wegen eines Vergewaltigungsdelikts Anfang September in Minneapolis festgenommen worden, durfte aber kurze Zeit später wieder zurück nach China reisen.Für die Anleger war die Angelegenheit damit aber noch lange nicht ausgestanden. Es herrschte wochenlang größte Nervosität angesichts der Frage, inwiefern eine Anklage in den USA Liu an der laufenden Führungsverantwortung für das an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq gelistete Unternehmen hindern würde. Dabei spielt eine Rolle, dass bei JD.com Eigentümerschaft, Führungsverantwortung und das laufende Management selbst für ein Techsektor-Unternehmen ungewöhnlich stark auf eine einzige Person abgestellt sind. Liu selber hält auch nach dem Börsengang noch rund 80 % der Stimmrechtsanteile an JD.com und ist als Chief Executive und Verwaltungsratschef im Einsatz. Die gegenwärtigen Führungsstrukturen laufen darauf hinaus, dass JD.com ohne Liu regelrecht gelähmt ist. So können laut Satzung keinerlei Verwaltungsratsbeschlüsse ohne ihn erfolgen.Das ungewisse juristische Nachspiel des Ermittlungsverfahrens gegen Liu hatte die Aktien von JD.com in einer sowieso schon schwierigen Marktphase für chinesische Technologiewerte heftig erfasst. In den ersten Septemberwochen büßte JD.com rund ein Drittel ihrer Marktkapitalisierung entsprechend einem Wertverlust von über 15 Mrd. Dollar ein. Mit der Nachricht von der Einstellung des Verfahrens ist ein Teil des die Person Liu betreffenden Malus nun wieder aufgeholt worden. So konnten die Titel an der Wall Street rund um Weihnachten um etwa 6 % auf 21,1 Dollar anziehen.Experten gehen davon aus, dass Liu im Verdachtszusammenhang mit sexueller Nötigung im Rahmen einer zivilrechtlichen Klage noch belangt werden kann. Anders als bei der Huawei-Finanzchefin Meng, die in China als Opfer nordamerikanischer Justizbehörden gilt und große Anteilnahme an ihrem Schicksal erfährt, schlägt Liu in China eher Misstrauen entgegen. Bereits jetzt schon scheint klar, dass man ihn nicht mehr zu dem Kreis der in China mit Breitenwirkung verehrten Gründer von Technologiefirmen wie Alibaba, Huawei oder Tencent rechnen können wird.