Bei Netflix beginnt eine neue Ära
Von Karolin Rothbart,
Frankfurt
Mit einem Wechsel an der Führungsspitze unterstreicht der Streaming-Pionier Netflix seine strategische Neuausrichtung in einem für die Branche deutlich schwieriger gewordenen Umfeld. Nach mehr als zwei Jahrzehnten hat sich der 62-jährige Mitgründer und Co-CEO Reed Hastings aus dem Top-Management zurückgezogen, um Platz für einen anderen Netflix-Veteranen zu machen: Greg Peters, bisher Chief Operating Officer und seit 2008 bei Netflix beschäftigt, übernimmt ab sofort zusammen mit dem Co-Chef Ted Sarandos die Führung im Konzern, wie Netflix mitteilte. Hastings wechsle zugleich auf die Position des Verwaltungsratsvorsitzenden.
Es gibt sicherlich einfachere Jobs als den, den Peters nun antritt. Nachdem Netflix die traditionelle Kabel-TV-Branche in der Vergangenheit lange vor sich hergetrieben hatte und immer mehr Kunden von ihrem Video-on-Demand-Angebot überzeugen konnte, quillt der Markt an entsprechenden Anbietern heute förmlich über. Abgesehen davon, dass die Inflation die Kaufkraft der Streaming-Kunden mindert, wird der Kampf um deren Aufmerksamkeit vielfach über die Summen ausgetragen, die Unternehmen wie Amazon, Walt Disney oder eben Netflix in ihre Inhalte pumpen. Dort, wo es geht, müssen andere Geschäftsbereiche finanziell dafür herhalten. Auf der Suche nach mehr Erlösquellen hat sich die Branche zunehmend der Werbebranche zugewendet − ein Schritt, den zuletzt auch Netflix gegangen ist, unter anderem dank der Hilfe des neuen Co-Chefs.
„Die Beförderung von Greg Peters zum Co-CEO an der Seite von Ted Sarandos ist ein Hinweis darauf, wie viel Netflix das Werbegeschäft bedeutet“, kommentierte Insider-Intelligence-Analyst Paul Verna den Vorgang. „Als COO war Peters einer der Architekten dieses Geschäfts und befürwortete den Einstieg, gegen den sich das Unternehmen viele Jahre gesträubt hat.“ Verna zieht in dem Zusammenhang den Vergleich zum Aufstieg von Sarandos, der vor seiner Tätigkeit als Co-CEO Chief Content Officer war. „Das war ein Zeichen, dass Netflix von einem Tech-Unternehmen zu einem Film- und TV-Studio gereift war. Der aktuelle Wechsel rückt neben den Inhalten nun die Werbung in den Mittelpunkt.“
Tatsächlich hatte sich Ex-CEO Hastings mit dem Angebot einer werbefinanzierten und dafür günstigeren Abo-Variante lange Zeit schwergetan. Es brauchte erst die Schockwirkung eines Nutzerrückgangs in den ersten beiden Quartalen 2022, die den Manager dazu brachte, von seinem ausschließlichen Fokus auf die Streaming-Qualität abzurücken und denselben Weg einzuschlagen wie die Rivalen Amazon Prime und Disney+. Auf einer Veranstaltung der „New York Times“ im Herbst erklärte der damalige Netflix-Chef auch, sein Zögern zu bereuen: „Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass ich nicht an die werbegestützte Taktik geglaubt habe“, sagte Hastings. „Damit lag ich falsch. Hulu (eine Streaming-Plattform von Walt Disney und Comcast; die Red.) hat wirklich bewiesen, dass man das im größeren Maßstab machen und Kunden niedrigere Preise bieten kann, und das war ein besseres Modell.“ Mit Blick nach vorn zeigte sich Hastings zuversichtlich: „Ich wünschte, wir hätten die Wende ein paar Jahre früher eingeleitet, aber wir werden aufholen, und künftig werden wir uns nicht mehr daran erinnern, wann wir angefangen haben.“
Seit November gibt es nun für Kunden in zwölf Ländern die Möglichkeit, sich für ein günstigeres Abo mit Werbeunterbrechungen zu entscheiden. Viele haben das schon getan: Die Markterwartungen an den Kundenzuwachs im vierten Quartal 2022 hat Netflix locker übertroffen, obwohl der Umsatz nur minimal zugelegt hat. Die Experten von Insider Intelligence schätzen, dass das Modell dem Konzern in diesem Jahr Werbeerlöse von etwa 830 Mill. Dollar einspielen könnte. Bis 2024 sollen es mehr als 1 Mrd. Dollar sein.
Kein Abschied für immer
Hastings hatte in den vergangenen Jahren zwar schon mehrfach betont, bald Platz zu machen und Sarandos bereits weitreichenden Entscheidungsspielraum eingeräumt. Dennoch dürfte er als Verwaltungsratschef weiter großen Einfluss im Konzern behalten. „Man kann sich gut vorstellen, dass er das Steuer wieder an sich reißt, sobald die Dinge durcheinandergeraten“, schreibt der Chefkolumnist des in der Regel gut informierten Tech-Portals „The Information“, Martin Peers. So habe sich Hastings schon nach der Beförderung von Sarandos als Co-CEO vielfach anderen Themen wie der Philanthropie zugewendet und zudem ein Buch über die Firmenkultur von Netflix geschrieben. Doch nachdem sich das Wachstum des Konzerns 2021 deutlich verlangsamte, habe er sich schnell wieder stärker im Unternehmen engagiert.
Hastings wies in der Telefonkonferenz zur Vorstellung der jüngsten Quartalszahlen selbst darauf hin, dass er nicht vorhabe, sich komplett zurückzuziehen: Es sei kein „Lebewohl“, sondern ein „Auf Wiedersehen“, wie er nach dem Dank seiner Managerkollegen für seine Arbeit betonte. Ihn dürfte auch ein finanzieller Anreiz anspornen, Netflix bei der Rückkehr auf den Wachstumspfad weiterhin zu unterstützen: Der Manager besitzt Netflix-Aktien im Wert von gut 1,6 Mrd. Dollar.