China trauert um den Premier des Volkes
Die Nachricht vom plötzlichen Herztod des im März nach zehnjähriger Amtszeit als Ministerpräsident in den Ruhestand getretenen chinesischen Spitzenpolitikers Li Keqiang hat sich am Freitag wie Blei über das Land gelegt. Der für wirtschaftlichen Pragmatismus bei aufrichtiger Zuwendung zu sozialpolitischen Problemen in der breiten Bevölkerung sehr geschätzte Li wird nach seinem überraschenden Tod im Alter von 68 Jahren nun erst recht als eine tragische Figur wahrgenommen.
Li Keqiang †
Von Norbert Hellmann, Schanghai
In der Flut von Trauerbekundungen, die am Freitag Chinas soziale Medien beherrschten, ragt vor allem Beklemmung darüber hervor, dass mit Li in gewisser die Ära der für Chinas rapiden wirtschaftlichen Aufstieg seit den neunziger Jahren ausschlaggebende Reform- und Öffnungspolitik zu Grabe getragen wird.
Schock und Schwermut
Die Schockreaktionen erklären sich zum einen daraus, dass Li in einem für medizinisch bestens versorgte chinesische Spitzenpolitiker ungewöhnlich frühen Alter verstorben ist. Zum anderen macht sich Schwermut darüber breit, dass der in den vergangen fünf Jahren vom autokratischen Führungsstil des Staats- und Parteichefs Xi Jinping zunehmend marginalisierte Ministerpräsident „mit gebrochenem Herzen“ aus dem Leben gegangen ist.
Es bleibt eine Bilanz des Scheiterns bei den Versuchen, anfangs schwungvollen Ansätze zu strukturpolitischen Reformen in echte Taten umsetzen. Die von Li vorangestellten Konzepte sollten der weltweit zweitgrößten Weltwirtschaft die Transformation vom investiven zum konsumgeleiten Wachstumsmodell ermöglichen, privates Unternehmertum zu fördern, das Kapitalmarktwesen zu liberalisieren und Chinas unterentwickelte Sozialsysteme zu stärken.
Tatsächlich allerdings ist der einzige als Ökonom ausgebildete Ministerpräsident in der Geschichte der Volksrepublik bei der Umsetzung seiner Ambitionen rasch an Grenzen gestoßen. Der Premierminister ist als Chef des Staatsrates auf dem Papier oberster Wirtschaftsverantwortlicher des Landes und hält in einer weitverzweigten Ministerialbürokratie die Fäden in der Hand. Die tatsächliche Formulierung einer wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Linie ist Li allerdings vom Staatspräsidenten nie gewährt worden.
In der Öffentlichkeit wurde man sich dessen ab dem Jahr 2016 gewahr, als Xi auch in allen entscheidenden Gremien mit Wirtschaftsbezug persönlich den Vorsitz übernahm. Dabei ließ er Liu He, einen engen persönlichen Vertrauten, von einem Wirtschaftsberater zu einer Art Wirtschaftszar umfunktionieren. Liu wurden über das Parteiorgan der Zentralen Finanz- und Wirtschaftskommission die tatsächliche Verantwortung in entscheidenden Lenkungsfragen übertragen.
Die Entmachtung ließ sich auch dadurch wahrnehmen, dass Li selbst nach öffentlichen Redeauftritten in den Parteimedien kaum noch Niederschlag fand. Artikeln mit seinem Namen wurden systematisch großformatigere Stücke mit Hervorhebung von neuen Initiativen des Präsidenten vorangestellt.
Inder zweiten fünfjährigen Amtsperiode des Duos Xi und Li, sorgte der von wachsenden Streitigkeiten mit den USA geprägte geo- und sicherheitspolitische Konfrontationskurs Chinas dafür, dass Lis Rolle als internationaler Promotor für Chinas Öffnungspolitik zusehends verkümmerte. Wirtschaftliche Konsultationen und bilateralen Austauschformate, bei denen Li mit einer offenen Art und exzellenten Englischkenntnissen für einigen Goodwill auf internationaler Bühne zu sorgen wusste, wurden in der Pandemie dann gänzlich eingestellt.
Die Demontage des offiziell stets als Nummer 2 in der Parteihierarchie geführten Li ist vom chinesischen Publikum in Zeiten der von Xi verordneten Null-Covid-Politik mit besonderer Bitterkeit registriert worden. Man sah, wie seine verzweifelten Versuche, verheerende Konsequenzen der exzessiven Restriktionen zu lindern und auf Leiden der Bevölkerung einzugehen, unterlaufen wurden. Dass man dies nicht vergessen hat, zeigt die vielen persönlich gehaltenen Würdigungen, mit denen Chinesen Li Keqiang nun plakativ als „echten Premier des Volkes“ verabschiedet haben.