Der Chef im Konzern der Intrigen
Von Joachim Herr, MünchenStabil, zuverlässig, konservativ, geringes Risiko: Auf diese beruhigenden Eigenschaften baut die europäische Ratingagentur Scope ihr Urteil für Linde. Erst in der vergangenen Woche bewerteten die Bonitätsexperten den Münchner Industriegase-konzern mit der Note “A+” – der fünftbesten.Zum soliden Charakter des Unternehmens passt der Vorstandsvorsitzende Wolfgang Büchele. Eigentlich. Der promovierte Chemiker und frühere BASF-Manager, Jahrgang 1959, wirkt bedächtig, spricht überlegt und unaufgeregt – in der Stimme die weiche Färbung des Schwäbischen.Doch mit der Ruhe im Linde-Konzern ist es längst vorbei. Seit Dienstag stellt sich sogar wieder die Frage, ob Büchele noch eine Zukunft in dem Unternehmen hat. Eine Fusion mit dem US-Konkurrenten Praxair wäre vielleicht das Ende seiner Karriere dort. Büchele kämpft seit längerem mit Gegenwind. Der niedrige Ölpreis macht dem Anlagenbau einen dicken Strich durch die Rechnung, und im Gasegeschäft ist die Luft in etlichen Sorgenregionen wie Brasilien und Australien raus. Büchele musste Prognosen zurücknehmen – auch den von seinem Vorgänger Wolfgang Reitzle festgelegten mittelfristigen Ausblick, der in der Rückschau ziemlich ambitioniert erscheint. Die Aktie von Linde bekam das Kurszittern, mit heftigen Ausschlägen vor allem nach unten. Ein Fest für den KonjunktivAls sich die Rückkehr Reitzles abzeichnete, ging der Puls des Unternehmens noch höher. Seit der von sich sehr überzeugte Tausendsassa im Mai Aufsichtsratsvorsitzender geworden ist, verstärkt sich die Unruhe noch. Intrigen, die an die rennfahrenden Vorstände im Halbleiterkonzern Infineon zu schlimmsten Zeiten erinnern, fanden den Weg an die Öffentlichkeit. So viele Kreise im Unternehmen, des Aufsichtsrats und der Industrie mischen mit und werden zitiert, dass einem davon schwindlig wird. Bisher bleibt allerdings unklar, wer der oder die Drahtzieher sind. Mit Büchele und Finanzchef Georg Denoke kann es gemeinsam im Vorstand aber offenbar nicht weitergehen.Und nun Praxair: Kaum ist die Nachricht von der noch zarten Annäherung für eine Fusion durchgesickert – beziehungsweise absichtlich gestreut worden -, da branden Personalspekulationen auf. Büchele könnte nach einem möglichen Zusammenschluss mit Praxair abtreten, heißt es. Ein wahres Fest für den Konjunktiv! Ja, es könnte sein, dass Büchele die Fusion mit den Amerikanern managt und dann aufhört. Vielleicht ist es sogar sein eigener Wunsch, weil ihn das Hickhack im Unternehmen müde macht. Es könnte aber auch sein, dass sich Reitzle einen Spitzenposten im gemeinsamen Konzern sichert und dafür Büchele opfert.Der CEO und der Chairman aus Deutschland: Das ginge im Fall einer Fusion unter Gleichen nicht und erst recht nicht, wenn Praxair Linde übernähme. Praxair-CEO Stephen Angel als Vorstandsvorsitzender und Reitzle als Präsident des Leitungs- und Kontrollgremiums: Das klingt schon realistischer. Früh lanciert, ist vielleicht fast gewonnen.Gewiss, Angel wird eine gute Arbeit attestiert (vgl. BZ vom 17. August). Doch dass die Personalthemen so früh eine so große Rolle spielen, bestätigt alle, die in Managern knallharte Optimierer der eigenen Karriere sehen. Das Wohl des Unternehmens und der Aktionäre folgt für manchen wohl erst an zweiter Stelle. Aber vielleicht wird es ja gar nichts mit einer Fusion. Und es könnte sein, dass Bücheles Dreijahresvertrag, der am 30. April 2017 endet, verlängert wird und er noch einige Jahre Vorstandschef von Linde bleibt. Dann könnte er einen neuen Versuch wagen, Ruhe ins Unternehmen zu bringen. Dass daraus etwas wird, ist von allen Hätte-wäre-wenn-Szenarien aber das unwahrscheinlichste.