Nurten Erdogan wird CFO der ING Deutschland
Die Finanzchefin als Menschenflüsterin
Von Tobias Fischer, Frankfurt
Aufzugeben ist keine Option. „Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann habe ich das fast immer durchgezogen“, sagt die neue ING-Finanzvorständin Nurten Erdogan klipp und klar und flankiert ihre Aussage mit einem breiten Lächeln. Mit eisernem Willen, Neugierde, Empathie und gefestigtem Wertegefüge hat sich die 54-jährige Deutsch-Türkin an die Schaltstellen der Finanzindustrie emporgearbeitet. Nach dem Einstieg 1998 als Trainee in der Deutschen Bank und einem sechsmonatigen Aufenthalt bei der Dresdner Bank in Schanghai übernahm sie rasch Verantwortung.
Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann habe ich das fast immer durchgezogen.
Mit PwC nach Amsterdam
Zuerst bei der Beratungsgesellschaft PwC, von der sie nach Amsterdam berufen wurde, um einen Geschäftsbereich aufzubauen, und wo sie die Prüfung zur Wirtschaftsprüferin absolvierte. Später bei der Deutschen Bank und der Commerzbank, wo sie lange Jahre in verantwortlicher Position in den Strategieabteilungen arbeitete, sich im M&A-Sektor nach passenden Übernahmeobjekten für die eigenen Häuser umsah, Wettbewerbsanalysen erstellte und auch Retail Banking einen guten Teil ihrer Tätigkeit ausmachte. 2019 stieß sie schließlich als CFO zur Deutschland-Niederlassung der Société Générale und besetzte 2021 zusätzlich den Posten des Chief Operating Officer.
Zur ING Deutschland verschlug es Erdogan vor neun Monaten, zunächst als Generalbevollmächtigte und stellvertretende CFO. Nach dem Weggang von Finanzvorstand Norman Tambach im Sommer hatte sie die operative Leitung der CFO-Einheiten inne und mit Erhalt des aufsichtlichen Segens den Vorstandsposten per 1. April offiziell übernommen.
Eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft und eine offene Art öffneten Erdogan Türen. Mit zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. „Ich habe mich sehr auf das Neue gefreut. Deswegen war ich auch offen, hier schnell neue Freunde zu gewinnen.“ Sie wurde auf die Hauptschule geschickt, weil sie kein Wort Deutsch kannte. „Es war mir als Zehnjährige klar, dass ich schnell die Sprache lernen muss, um Teil einer Spielgruppe, der Klasse, der Gesellschaft zu sein“, sagt sie.
Sie habe immer ein Büchlein mit sich getragen, in dem sie unterwegs Wörter notierte, die sie nicht kannte, um sie zu Hause nachzuschlagen, erinnert sie sich. Nach einem guten halben Jahr habe sie die Sprache dann recht gut beherrscht, zumindest verstanden. Das Sprechen kam mit der Zeit.
Später absolvierte sie eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin und wechselte anschließend zu einer Versicherung, wo sie tagsüber voll arbeitete und abends parallel büffelte. So erlangte sie den Realschul- und den Gymnasialabschluss auf dem zweiten Bildungsweg.
In neue Aufgaben gestürzt
Auch bei PwC, wo sie sich nach dem Wirtschaftsstudium in Bochum und im englischen Kingston upon Hull ohne Notwendigkeit in neue Herausforderungen stürzte und den Entschluss fasste, Wirtschaftsprüferin zu werden. „Dann kam das Angebot von PwC, nach Amsterdam zu gehen und dort einen Geschäftsbereich aufzubauen. Ich habe gedacht: Schaffe ich beides zeitgleich? Neues Umfeld und Aufbau eines Geschäftsbereichs und Wirtschaftsprüferexamen? Ich habe dann einfach weitergemacht.“
Eigenschaften, die gemeinhin auch jenem prominenten Menschen bescheinigt werden, der sie zu begeistern vermag. Auf die Frage, welche Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte sie gerne einmal kennenlernen würde, antwortet sie mit Barack Obama. An dem früheren US-Präsidenten, dessen Biografie sie gelesen hat, schätzt sie insbesondere, dass er zu überzeugen und inspirieren wisse. Ein Menschenflüsterer eben.
Ich glaube, wir sind alle erst dann erfolgreich - und zwar nachhaltig erfolgreich -, wenn wir mit Integrität agieren.
Was Erdogan im Leben motiviert, sind Familie, Werte, Wissbegierde und die Interaktion mit Mitmenschen.„Integrität, Wertschätzung und Respekt: Das sind für mich wichtige Werte im Privatleben und auch im Geschäftsleben“, führt sie aus. „Ich glaube, wir sind alle erst dann erfolgreich – und zwar nachhaltig erfolgreich –, wenn wir mit Integrität agieren.“
Eine Frage des Respekts
Respekt spiele in der türkischen Kultur eine überaus wichtige Rolle und sei ihr von Anfang an mitgegeben worden, erzählt die im Gespräch jederzeit sehr höflich und verbindlich wirkende Erdogan. „Ich finde, wenn zumindest 80% der Menschen, die ich mit Respekt behandele, diesen zurückgeben, dann beeinflusst das schon etwas positiv. Und das ist ein Riesenerfolg für mich.“
Mit anderen Dinge voranbringen
Als weitere Antreiber bezeichnet sie Menschen, mit denen sie täglich im Privaten wie im Beruflichen durch Interaktion, konstruktive und ernste Diskussionen Wert schaffen, das Unternehmen und anderes voranbringen kann. Auch geht sie nach eigenem Bekunden gerne den Dingen auf den Grund, liebt es zu lernen und Erfahrungen zu teilen und andere zu unterstützen.
Helfen bei „Rock your Life“
Das tut sie auch im Kuratorium von „Rock your Life“. Die gemeinnützige Organisation stellt Schülern und Auszubildenden ehrenamtliche Mentoren zur Seite, um ihnen Wege aufzuzeigen und als eine Art Kompass zu dienen.
Viel Zeit mit der Familie
Sehr viel Zeit verbringt Erdogan mit ihrer Familie – ihrem Mann und ihrem Sohn. „Das ist mir superwichtig.“ Und auch für sich selbst und ihre Gesundheit nimmt sie sich Zeit. „Nur wenn ich gesund bin, wenn ich ausgeglichen bin, kann ich mein Bestes geben. Dafür gehe ich joggen und mache viel Yoga.“ Das verleiht ihr Gelassenheit und Ausgleich.
Darüber hinaus liest und reist die Frankfurterin gerne und bezeichnet sich und ihre Familie als fußballbegeistert. Dann reißt es die ruhig und bedächtig wirkende Erdogan mitunter vom Sitz, und sie findet sich im Geiste auf dem Spielfeld wieder und kickt mit, wie sie freudestrahlend erzählt. „Wir lieben die Eintracht und gehen zu den Spielen. Es macht unheimlich Spaß, Vereinsmitglied und Fan dieser Mannschaft zu sein. Denn sie hat so viele Gesichter, und die Performance ist so volatil. Da braucht man wirklich Selbstbewusstsein und Resilienz, um zu sagen, das ist meine Mannschaft – in guten wie in schlechten Zeiten.“
Wir lieben die Eintracht und gehen zu den Spielen. (...) Da braucht man wirklich Selbstbewusstsein und Resilienz, um zu sagen, das ist meine Mannschaft - in guten wie in schlechten Zeiten.
So wie Erdogan ihren Mitmenschen stets mit Wertschätzung und auf Augenhöhe zu begegnen trachtet, fordert sie auch von ihren Mitarbeitern ein ehrliches Wort ein. „Offenheit und Transparenz sind für mich extrem wichtig“, sagt sie. „Wenn ich offen sage, worum es geht, welche Konsequenzen z.B. ein Projekt hat, und dann auch aktiv zuhöre und alle Meinungen berücksichtige, dann kommt auch das Beste dabei heraus“, ist sie überzeugt.
„Dann gehen die Menschen auch die Extrameile, weil sie sich mit dem Thema und dem Team identifizieren. Und weil sie merken, dass ihr Beitrag einen Unterschied macht und eine positive Wirkung hat.“
Man begegnet sich stets zwei- bis dreimal im Leben.
Die Finanzexpertin und Menschenflüsterin Erdogan weiß, dass ein wertebasierter Umgang im Unternehmen für ein gutes Betriebsklima, motiviertere Mitarbeiter und zufriedenere Kunden sorgt und sich auch betriebswirtschaftlich auszahlt. „Ich möchte immer alles versuchen, um eine Win-win-Situation herbeizuführen“, sagt sie. „Denn man begegnet sich stets zwei- bis dreimal im Leben.“
Ich muss selten auf den Tisch hauen. Denn ich bin offen für alle Argumente und lege die Tatsachen und Annahmen auf den Tisch.
Das schließt nicht aus, dass sie im Notfall, wenn alle Stricke reißen, andere Saiten aufzieht. „Ich muss selten auf den Tisch hauen“, stellt Erdogan fest. „Denn ich bin offen für alle Argumente und lege die Tatsachen und Annahmen auf den Tisch. Ich würde grundsätzlich meine Position in der Hierarchie nie ausnutzen, um etwas durchzusetzen.“ Ihrer Meinung nach sollten stets Argumente überzeugen und die Interessen der Stakeholder im Vordergrund stehen.
Bank durchleuchtet
Schon in ihrer Funktion als stellvertretende CFO hat sie ihren Fokus auf die vier Bereiche Technologie, Prozesse, Beschäftigte und Daten gelegt. „Ich bin froh, dass sich die CFO-Rolle gewandelt hat von der zurückblickenden Berichterstattung hin zu einem Allrounder, der Zukunft und Strategie mitgestaltet. Mir ist es ganz wichtig, die Strategie quasi als Copilot mitzudefinieren und die Umsetzung zu begleiten.“ Dass sie ihre Vorstellungen – wie üblich – verwirklicht, darf unterstellt werden.
Nurten Erdogan ist seit 1. April Chief Financial Officer (CFO) der ING Deutschland. Die 54-Jährige arbeitet seit 1998 im Finanzsektor und blickt auch auf Tätigkeiten in Deutscher Bank, Commerzbank und bei PwC zurück.