Ein Oberfranke in der heißen Eon-Küche
Von Andreas Heitker, DüsseldorfMichael Sen ist in Düsseldorf schnell auf Betriebstemperatur gekommen. Die Koffer waren noch kaum ausgepackt, da standen bei dem seit Juni amtierenden neuen Finanzvorstand von Eon schon die großen Themen auf der Agenda: Atomrückstellungen, Stresstest, Strategieüberprüfung, Neujustierung der Konzernaufspaltung, Desinvestitionen. Und das alles unter den nervösen Blicken der Finanzmärkte. Rund 100 Investorengespräche führte der Betriebswirt in den ersten Wochen in der für ihn noch neuen Branche. Sein Urteil nach den ersten knapp 150 Tagen im Rheinland ist daher auch kaum verwunderlich: Ich bin jetzt in einer der heißesten Küchen Europas, sagt Sen im Gespräch.Die Temperaturen hat der 46-Jährige bislang recht gelassen ertragen, was er selbst mit Erfahrung und Handwerk erklärt. In schwierigen Situationen Prioritäten richtig zu setzen, ist das eine. Oder wie man in Franken, wo Sen groß geworden ist, sagt: Immer schön einen Kloß nach dem anderen essen. Es geht aber auch darum, delegieren zu können, und Sen gilt als ausgesprochener Teamplayer. Nobody is perfect, but a team can be gehört zu seinen liebsten Sprüchen. Die Komplexität der Energiewende und der Einstieg in eine neue Branche relativieren sich ohnehin, wenn man bereits mehr als zwei Jahrzehnte im Siemens-Konzern verbracht hat. Erfahrung mit UmbrüchenSein wichtigster Erfahrungsschatz ist momentan aber wohl, dass Sen mehr als einmal schon strukturelle Veränderungen in einzelnen Branchen erlebt hat. Er hat in seinem bisherigen Karriereverlauf mehrfach erfahren, wie Innovationen und neue Technologien die Strategien und Geschäftsmodelle von Konzernen über den Haufen geworfen haben, wie nach Umbrüchen in einzelnen Sektoren Unternehmen oder gar ganze Industriezweige verschwunden sind.Das große Siemens-Werk, in dem sein Vater lange Jahre als Entwicklungsingenieur arbeitete, ist zum Beispiel längst geschlossen, ebenso wie andere Werke des Konzerns in Berlin, wo Sen 1988 eine Stammhauslehre im Starkstromkabelwerk begonnen hatte. Als er 13 Jahre später als junger Manager in die Telekommunikation des Konzerns geschickt wurde, ging es ebenfalls um Strukturbrüche einer Branche, die mit harten Einschnitten gemanagt werden mussten. Die Player in der Branche, die damals das Geschehen bestimmten, gibt es heute alle nicht mehr. Teamplayer, StrategeUnd auch in der Medizintechnik von Siemens, wo Michael Sen zuletzt sieben Jahre als CFO gearbeitet hat, drehte sich vieles um sich verändernde Rahmenbedingungen, Märkte und damit auch Geschäftsmodelle. Als Eon anfragte, hat er nach eigenen Angaben nicht lange überlegt gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen. In den aktuellen Umbrüchen in der Energiewirtschaft habe er bekannte Muster wiederentdeckt, sagt Sen.Im Siemens-Konzern hat der Familienmensch und Vater eines Sohnes bereits eine blitzsaubere Karriere hingelegt und dabei verschiedenste Finanzpositionen durchlaufen. Beim Change Management durch die Euro-Einführung und bei der Umstellung der Rechnungslegung auf US-GAAP stand er in der ersten Reihe, hat die Telekommunikationsblase ebenso hautnah mit verarbeitet wie die Compliance-Krise. Ich war immer da, wo es sehr heiß im Konzern war, sagt Sen Parallelen zu seiner heutigen Aufgabe sind offensichtlich. In München war Sen ein hoch gelobter Manager. Sein Effizienzprogramm Agenda 2013 in der Medizintechnik wurde Vorbild für den gesamten Siemens-Konzern. Immer wieder kreuzten sich in den Jahren auch die Wege von ihm und Joe Kaeser. Doch zuletzt blieb der scheinbar fest programmierte Aufstieg aus. Nach der Beförderung Kaesers zum Konzernchef und der notwendigen Neubesetzung an der Spitze des Finanzressorts wurde Sen ebenso übergangen wie bei der Auswahl des neuen Medizintechnik-CEO.Aber vielleicht hatte dieser scheinbare Rückschlag ja auch sein Gutes: Denn der begeisterte Tennisspieler war immer auch ein operativ und strategisch denkender, sehr kommunikativer Manager gewesen. Ob er seine Stärken als Siemens-CFO hätte einbringen können? Das stärkste Mittel bei seiner Arbeit sei immer die Kapitalallokation, sagt Sen, der sich nicht auf das Erstellen von Quartalsbilanzen einengen lassen will. Nur mit Zahlen wäre ich nicht glücklich. Indische WurzelnMichael Sen hat viele Wurzeln. Geboren wurde er im Rheinland, in Korschenbroich, keine 30 Kilometer von seinem heutigen Arbeitsplatz entfernt. Als er drei Jahre alt ist, zieht die Familie aber nach Neustadt bei Coburg ins damalige Zonenrandgebiet. Sen wächst in Oberfranken auf. Seine Eltern kommen gebürtig aus Indien und waren zum Studieren nach Europa gekommen. In Neustadt versuchten sie sich an das dortige Leben anzupassen: Auf den Tisch kamen Thüringer Klöße. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Die indische Sprache hat Sen nie gelernt. Dafür hat er eher preußische Tugenden wie Disziplin und Arbeit für sich entdeckt, die er auch heute noch schätzt und auch schon bei Eon-Chef Johannes Teyssen entdeckt hat. Advokat des InvestorsSen hat viel Persönliches in sein neues Eon-Büro mitgebracht. Da ist der historische Kompass, der ihm auch in Compliance-Fragen immer den richtigen Weg weisen soll und der ebenso ein Geschenk seines alten Teams ist wie ein riesiges Porträt von ihm zusammengesetzt aus Hunderten Folien und Powerpoint-Präsentationen aus seiner Zeit als Medizintechnik-CFO in Erlangen. An der Wand hängen Aufnahmen seiner zwei Gehirnhälften, die fast wie Pop-Art-Gemälde aussehen. Und hinter seinem Schreibtisch steht ein schwarzer Regiestuhl mit dem Aufdruck Investor. Der Investor sei der unsichtbare Freund, der bei der Arbeit immer dabei sei und den man vor wichtigen Entscheidungen auch um Rat fragen könne, so der CFO. Er selbst sehe sich als Advokat des unsichtbaren Freundes.Im nächsten Jahr nach der Aufspaltung muss Sen sein Büro schon wieder verlassen. Eon zieht dann nach Essen. Die heutige Konzernzentrale übernimmt die Kraftwerksgesellschaft Uniper. Was Eon, die sich künftig auf erneuerbare Energien, das Vertriebs- und Netzgeschäft konzentrieren will, dann vielleicht auch von Siemens lernen kann, hat Sen auf jeden Fall auch schon festgestellt: eine sehr viel stärkere Kunden- und Wettbewerbsorientierung. Es gehe nicht mehr nur darum, Stromverträge zu verkaufen, sondern Energielösungen zu entwickeln.