VW bittet Winterkorn und Stadler zur Kasse
Von Sebastian Schmid, Frankfurt
Volkswagen hat am Freitag einen Schlussstrich unter eine leidige Untersuchung vergangener Verfehlungen gezogen und zugleich ein neues Kapitel aufgeschlagen, zu dem es ohne diese Verfehlungen vielleicht nie gekommen wäre. Am selben Tag, an dem VW den ersten batterieelektrischen Sportgeländewagen ID.4 an einen Kunden übergeben hat, teilte der Konzern mit, dass er Schadenersatzforderungen gegenüber den ehemaligen Top-Managern Martin Winterkorn und Rupert Stadler im Zusammenhang mit dem Dieselskandal geltend machen will.
Zur Höhe der Forderung wurden noch keine Angaben gemacht. Der Betrug bei Abgasemissionstests hat Volkswagen mehr als 30 Mrd. Euro gekostet. Er hat allerdings auch dafür gesorgt, dass der Wolfsburger Autohersteller vielleicht nachdrücklicher als jeder andere Wettbewerber mit Verbrenner-Historie die Entwicklung batterieelektrisch angetriebener Fahrzeuge (BEVs) vorantreibt. Vom ID.4, dem zweiten Auto auf Basis des Modularen E-Antriebs-Baukastens (MEB), sollen noch dieses Jahr weltweit 150000 Stück verkauft werden, über den gesamten Produktlebenszyklus sogar mehr als 2 Millionen.
Ob die Entwicklung wirklich einen positiven Ausgang für VW nimmt, muss erst noch abgewartet werden. Laut VW liegen europaweit 23500 Vorbestellungen für den ID.4 vor.
Nicht länger abwarten wollte dagegen der Aufsichtsrat die Regressfrage gegenüber dem ehemaligen VW-Chef Winterkorn und Ex-Audi-Chef Stadler. Nach Abschluss der bereits im Oktober 2015 eingeleiteten Untersuchung der Ursachen und Verantwortlichkeiten für die Dieselkrise werde nun ein Schlussstrich gezogen, teilte VW mit.
Unterschiedliche Vorwürfe
Der Aufsichtsrat habe beschlossen, Winterkorn und Stadler wegen aktienrechtlicher Sorgfaltspflichtverletzungen auf Schadenersatz in Anspruch zu nehmen. Die Vorwürfe an die beiden Ex-Führungskräfte unterscheiden sich allerdings. Winterkorn habe es versäumt, dafür zu sorgen, nach einer Krisensitzung im Juli 2015 über die Hintergründe des Einsatzes unzulässiger Software in den 2-Liter-Dieselmotoren, die von 2009 bis 2015 in den USA vertrieben wurden, zu informieren. Außerdem habe er sich nicht ausreichend bemüht, dass die Fragen der US-Behörden umgehend und wahrheitsgemäß beantwortet worden seien. Der Vorwurf an Stadler, gegen den seit vergangenen September ein Strafverfahren in München läuft, bezieht sich hingegen auf eine Zeit, als der Dieselskandal schon öffentlich bekannt war. Er habe seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er 2016 keine Untersuchung der von Audi entwickelten 3- und 4,2-Liter-Turbodieselmotoren auf unzulässige Softwarefunktionen angestoßen habe.
Winterkorn, der sich ab September in Braunschweig auch einem langwierigen Betrugsverfahren stellen muss, beteuerte am Freitag, „alles Erforderliche getan und nichts unterlassen zu haben, was dazu geführt hätte, den entstandenen Schaden zu vermeiden oder geringer zu halten“. Der Bericht der Prüfer liege ihm allerdings noch nicht vor, teilte er über seine Anwälte mit. Er werde sich bemühen, eine Klärung der Fragen im Dialog mit der Volkswagen AG zu suchen.
Pflichtverletzungen anderer Mitglieder des Konzernvorstands wurden nicht festgestellt. Dass gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch, der neben Winterkorn als Finanzvorstand fungierte, keine Regressansprüche erhoben werden, steht schon länger fest. Die Anwälte von Gleiss Lutz, auf deren Untersuchung basierend Volkswagen nun Winterkorn und Stadler zur Kasse bittet, hatten bereits im Mai 2020 erklärt, dass weder Pötsch noch der aktuelle Vorstandsvorsitzende Herbert Diess zivilrechtliche Pflichten gegenüber der Volkswagen AG verletzt hätten.
Während im Konzernvorstand keine weiteren Schadenersatzansprüche erkannt wurden, gibt es bei den Töchtern Audi und Porsche weitere Ex-Führungskräfte, die zur Kasse gebeten werden. Bei Audi sollen Ex-Entwicklungschef Ulrich Hackenberg und dessen kurzzeitiger Nachfolger Stefan Knirsch Schadenersatz leisten, bei Porsche der ehemalige Entwicklungsvorstand Wolfgang Hatz. Gegenüber dem ehemaligen Entwicklungsvorstand der Marke Volkswagen, Heinz-Jakob Neußer, hatte VW bereits zuvor Schadenersatzansprüche angemeldet.