Was der Wahlsieg von Geert Wilders für die EU bedeutet
Rechtspopulist zieht Vollbluteuropäer davon
rec Brüssel
Von Stefan Reccius, Brüssel
Für Frans Timmermans war Mittwoch ein mieser Tag. Der Sozialdemokrat hatte gleich zwei Niederlagen zu verkraften: Im Straßburger EU-Parlament fielen schärfere Regeln für den Einsatz von Pestiziden durch, ein Vorhaben, das Timmermans in seiner Zeit als Klimakommissar auf den Weg gebracht hatte. Und bei der Wahl in seiner Heimat Niederlande zog die Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders dem von Timmermans geführten links-grünen Bündnis viel weiter davon, als Umfragen suggeriert hatten.
Überraschend hatte Timmermans vor einigen Monaten sein Amt in Brüssel aufgegeben, um Nachfolger von Mark Rutte zu werden. Rutte, seit 2010 in wechselnden Konstellationen Premierminister, trat nicht mehr an. Er hatte im Juli seinen vorzeitigen Rückzug bekannt gegeben, erschöpft von einem Streit über die Migrationspolitik. Rutte wird Interesse am Job des Nato-Generalsekretärs nachgesagt, der nächstes Jahr frei wird.
Wilders weit vor Timmermans
Die vorgezogenen Neuwahlen sind zu einem Triumph von Geert Wilders geworden. Die PVV des Rechtspopulisten kommt auf 37 der 150 Parlamentssitze. Auf Platz 2 folgt Timmermans’ Bündnis mit 25 Mandaten, dicht gefolgt von Ruttes VVD mit Spitzenkandidatin Dilan Yeşilgöz. Die erst vor wenigen Monaten gegründete Partei NSC ("Neuer Sozialer Vertrag") des einstigen Christdemokraten Pieter Omtzigt liegt mit 20 Sitzen auf Platz 4.
Erdrutschsieg, Rechtsruck, historisches Ergebnis: Der Wahlausgang hat die Niederlande politisch erschüttert. Auch weil völlig unklar ist, wie die künftige Regierung aussehen könnte. Wilders benötigt mindestens zwei Koalitionspartner, Timmermans drei. Spekuliert wird über ein Viererbündnis der Allianz aus Sozialdemokraten und Grünen mit VVD, NSC und den Liberalen von D66. Aber zunächst einmal ist Wilders am Zug.
Auftrieb für Euroskeptiker
Rechtspopulist Wilders oder Vollbluteuropäer Timmermans: Unter wessen Führung die Niederlande künftig nach voraussichtlich zähen Koalitionsverhandlungen stehen werden, hat auch auf europäischer Ebene große Bedeutung. In der Slowakei wird demnächst in Robert Fico ein Mann vom Schlage Viktor Orbáns die Macht übernehmen. Bei den Wahlen in Polen hat sich dagegen der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk durchgesetzt, was in proeuropäischen Kreisen für immenses Aufatmen gesorgt hat.
Mit Wilders bekommt das euroskeptische Lager nun wieder Auftrieb. Der 60-Jährige kokettiert mit einem Referendum über einen EU-Austritt der Niederlande. Selbst wenn ein "Nexit" in allen denkbaren Regierungskonstellationen ausgeschlossen scheint, ist für reichlich Zündstoff gesorgt: Das gilt für Wilders’ Migrationspolitik ("Asyl-Tsunami") ebenso wie für die Unterstützung der Ukraine, die Wilders zurückfahren will. Bestrebungen für mehr Klimaschutz und interne Reformen, die die EU handlungsfähiger machen sollen, würden leiden.
"Demokratie verteidigen"
Entsprechend groß ist die Besorgnis im proeuropäischen Lager. "Die große Zustimmung für antieuropäische Kräfte in den Niederlanden ist bitter", sagte Europa-Staatsministerin Anna Lührmann (Grüne) der Nachrichtenagentur Reuters. "Alle Proeuropäer müssen jetzt daran arbeiten, dass sich das bei den Europawahlen nicht wiederholt", fügte die Staatsministerin im Auswärtigen Amt mit Blick auf die Europawahlen 2024 hinzu. CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen äußerte Zweifel, dass Wilders tatsächlich Premierminister wird.
Misslingt ihm die Regierungsbildung, kommt Timmermans zum Zug. In der für sein Bündnis deprimierenden Wahlnacht hielt der 62-Jährige eine emotionale Rede, die Niederländer müssten jetzt "die Demokratie verteidigen". Anders als die von ihm lancierte und endgültig gescheiterte EU-Pestizidverordnung wird Timmermans seine Ambitionen aufs Amt des Premierministers so schnell nicht begraben.