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Wer den Big Bang versteht, kriegt auch Big Data hin

Von Stefan Paravicini, zzt. Genf Börsen-Zeitung, 6.8.2015 Ob man nun im Auftrag der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) den Nachweis für ein Elementarteilchen sucht oder zum Beispiel für ein Unternehmen aus der Telekombranche einen...

Wer den Big Bang versteht, kriegt auch Big Data hin

Von Stefan Paravicini, zzt. GenfOb man nun im Auftrag der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) den Nachweis für ein Elementarteilchen sucht oder zum Beispiel für ein Unternehmen aus der Telekombranche einen Kunden finden will, der mit einer statistisch relevanten Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen seinen Vertrag kündigen wird – “die Mathematik dahinter ist eigentlich die gleiche”, sagt Prof. Dr. Michael Feindt, Gründer und Chief Scientific Advisor des Karlsruher Softwareunternehmens Blue Yonder. Sechs Jahre am Cern in GenfDer Physiker, der seit 1997 am Institut für Experimentelle Kernphysik in Karlsruhe lehrt, muss es eigentlich wissen. Denn Feindt hat gut sechs Jahre am Cern in Genf geforscht, wo nicht weniger als der Ursprung der Materie im “Big Bang” erkundet wird. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe hat er mit Hilfe von ausgefeilten statistischen Methoden den Nachweis für die Existenz von “vier oder fünf” Teilchen erbracht, wie er bei einem Besuch an alter Wirkungsstätte erinnert. Fünf Jahre nach dem Wechsel nach Karlsruhe gründete er die Firma Phi-T (Physics Information Technologies), die einen von Feindt entwickelten Prognosealgorithmus für die Teilchenphysik auf unternehmerische Fragestellungen anwendete.Die Anfänge als Unternehmer waren beschwerlich, erzählt Feindt. Über das Thema “Big Data” war noch nicht beinahe täglich auf den Wirtschaftsseiten zu lesen. Der Markt für datengetriebene Software war überschaubar. Wer sich aber bereits für die Möglichkeiten von datengestützter Prognosesoftware interessierte, dachte dabei nicht als Erstes an ein halbes Dutzend promovierter Physiker aus Karlsruhe.Als Feindt dann 2005 von einem Pitch beim Handelskonzern Otto hörte, in dem es um Prognosen zur Optimierung des Verkaufs von Kinderkleidung ging, bekam Phi-T trotzdem einen Termin und setzte sich mit ihrem Algorithmus gegen namhafte Konkurrenten durch. Phi-T gewann nicht nur den Wettbewerb, sondern auch das Interesse des Otto-Konzerns, der 2007 schließlich für Übernahmegespräche an die Tür klopfte. Ein Jahr später hatte man sich für die vertiefte Geschäftsbeziehung auf ein 50:50-Joint-Venture geeinigt, in das Phi-T das Know-how und Otto Kapital einbrachte. Es war der Start von Blue Yonder.Doch was bringt einen Grundlagenforscher auf dem Feld der Teilchenphysik wie Michael Feindt überhaupt dazu, sich etwa mit Prognosen für den Absatz eines Einzelhändlers an der Fleischtheke zu beschäftigen, damit der seine Kosten in den Griff bekommt und gleichzeitig die Verfügbarkeit seiner Waren optimiert? Es war die Russlandkrise Ende der neunziger Jahre, die ihn an der Börse einiges Geld kostete, sagt Feindt. Denn der Naturwissenschaftler, der im Rahmen seiner Forschungstätigkeit einen großen Teil seiner Zeit für die Verfeinerung statistischer Methoden verwendet hatte, um aus den bei Kollisionen im Teilchenbeschleuniger des Cern erzeugten Daten möglichst viele Erkenntnisse ziehen zu können, hatte sich im Umgang mit dem eigenen Vermögen weitgehend auf das Bauchgefühl verlassen. Und damit sollte jetzt Schluss sein.Die erste Zielfunktion für Feindts Algorithmus außerhalb der Teilchenphysik war denn auch die Vorhersage von Kursentwicklungen an den Finanzmärkten. Die Prognoseergebnisse waren vielversprechend, und der heute 56-Jährige startete einen Investmentfonds, der später von Lupus Alpha verwaltet wurde. Heute wird die Strategie exklusiv von einem Family Office genutzt. Parallel erfolgte die Optimierung des Algorithmus für andere Zielfunktionen im Kontext unternehmerischer Fragestellungen.Mittlerweile hat Blue Yonder gehörig Fahrt aufgenommen. Das Thema Big Data ist in den Chefetagen allgegenwärtig, der Bedarf an Data Scientists, die aus vorhandenen Daten in- und außerhalb der Unternehmensgrenzen Erkenntnisse für das Geschäft ableiten können, wächst. Das ist das Kerngeschäft von Blue Yonder. Ihre Physiker und Naturwissenschaftler können die Zukunft natürlich nicht vorhersagen. Sie kommen gestützt auf eine Vielzahl von Daten und wissenschaftliche Methoden aber zu Prognosen von ganzen Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die Entscheidungen in Unternehmen automatisierbar machen, sagt Feindt. Die jahrelange Erfahrung und das Bauchgefühl, auf das sich viele Manager häufig im Alltag stützten, kämen dagegen nicht an. “Ich bin immer wieder verwundert darüber, wie schlechte Entscheidungen in der Wirtschaft getroffen werden.” René Obermann im BeiratBlue Yonder meldete 2013 einen Umsatz von gut 10 Mill. Euro. Aktuellere Geschäftszahlen sind nicht veröffentlicht. CEO Uwe Weiss strebt jedes Jahr eine Verdopplung der Erlöse an. Die Entwicklung hat auch über den Otto-Konzern hinaus das Interesse von Investoren geweckt. Im Dezember hat sich Warburg Pincus mit 75 Mill. Dollar an dem Unternehmen beteiligt. Ex-Telekom-Chef René Obermann, seit Februar Partner bei der Private-Equity-Gesellschaft, sitzt ebenso im Beirat von Blue Yonder wie der ehemalige SAP-Vorstand Paul Wahl, der für den Softwarekonzern unter anderem das US-Geschäft verantwortete. Der Sprung in die USA ist nach der Eröffnung einer Niederlassung in London vor zwei Jahren das nächste Expansionsziel von Blue Yonder, die mittlerweile etwa 150 Beschäftigte zählt.Dass ein Big-Data-Spezialist wie die 2004 von Peter Thiel und Alexander Karp in Palo Alto gegründete Palantir bei Investoren mittlerweile 1,5 Mrd. Dollar eingesammelt hat und dabei mit mehr als 20 Mrd. Dollar bewertet wird, weckt in Karlsruhe indessen kein Fernweh. “Die Leute sind dort nicht so gut ausgebildet wie in Europa, und die Löhne sind höher, warum sollten wir also ins Silicon Valley gehen?”