PERSONEN

Wolfgang Reitzle läuft sich warm

Von Walther Becker, Frankfurt Börsen-Zeitung, 31.7.2013 inmal quer durch die Münchner Altstadt: von der Klosterhofstraße zum Wittelsbacher Platz, vom Sitz des Industriegasespezialisten Linde zur Zentrale von Siemens. Ein Katzensprung. Wenn es einer...

Wolfgang Reitzle läuft sich warm

Von Walther Becker, Frankfurtinmal quer durch die Münchner Altstadt: von der Klosterhofstraße zum Wittelsbacher Platz, vom Sitz des Industriegasespezialisten Linde zur Zentrale von Siemens. Ein Katzensprung. Wenn es einer schaffen könnte, an der Spitze des Siemens-Aufsichtsrats für geordnete Verhältnisse zu sorgen, dann er: Wolfgang Reitzle, der Vorstandsvorsitzende von Linde. Dies jedenfalls meinen Investoren, deren Liebling der Manager ist, und Personalexperten. Der selbstbewusste Manager selbst dürfte den Gedanken kaum für abwegig halten und sich in die Pflicht nehmen lassen. Dem Anforderungsprofil, das an den künftigen Oberkontrolleur des Investitionsgüterriesen zu stellen wäre, würde der 64-Jährige am ehesten entsprechen. Nicht unter, nach CrommeAls es an der Siemens-Spitze schon einmal drunter und drüber ging – Aufsichtsratsvorsitzender war schon 2007 Gerhard Cromme als Nachfolger Heinrich v. Pierers -, da wollte der seit 2003 als Linde-Chef agierende Reitzle nicht unter dem heute 70-jährigen Cromme arbeiten. Aber als dessen Nachfolger im Vorsitz des Kontrollgremiums möglicherweise schon.Er dürfte die Chaostage bei dem Weltkonzern intensiv verfolgen, aber sicherlich stillhalten, bis sich der Pulverdampf verzogen hat und Cromme womöglich seinen Triumph über den Abgang von Peter Löscher ausgekostet hat. Reitzle läuft sich warm. Er dürfte großen Wert darauf legen, in einem geordneten Prozess den Neuanfang des traditionsreichen Unternehmens als Aufsichtsratsvorsitzender zu begleiten und nicht mitten in den Ränkespielen älterer Herren zu starten. Mit Conti-ErfahrungWie man in einer verfahrenen Situation befrieden kann, hat der frühere BMW-Manager bei Continental gezeigt. Dort kehrte bald Ruhe ein in der Übernahmesituation durch Schaeffler, die in Hannover lange als feindlich wahrgenommen wurde. Zuvor hatte die Schaeffler-Seite viel dafür getan, Öl ins Feuer zu gießen. Reitzle gilt als Brückenbauer und hält sich Pflichtbewusstein bescheinigt: “Einer muss es ja machen,” hatte er zum Fall Conti 2010 gesagt.Ihn reize die Herausforderung. “Ich weiß, dass ich bei Conti noch einiges dazulernen werde.” Dort sei alles falsch gemacht worden, was man falsch machen könne. Er habe die Schwierigkeiten bei Conti nicht verursacht, deshalb könne er dort “rein faktenbasiert an die Probleme herangehen”, sagte Reitzle vor drei Jahren. Wenn man diese Aussagen von damals nimmt und Conti durch Siemens ersetzt, wird ein Schuh draus.Weitere Pluspunkte: Reitzle pflegt ein gutes Verhältnis zur bayerischen Staatsregierung, die bei Siemens zumindest in Krisenzeiten gerne mitredet. Er ist in der deutschen Wirtschaft bestens vernetzt und hat seine Drähte nach Berlin – immerhin hat die Kanzlerin sich ja besorgt über die Ränkespiele in München gezeigt.Und vor allem: Siemens braucht, so sagen Beobachter, einen Ingenieur, wenn “Finanzer” Joe Kaeser die operative Führung übernimmt. Als Korrektiv und zur Besänftigung der Siemensianer, die einen Manager mit in der Verantwortung wollen, der etwas von Technologie versteht.Allianz-Chef Michael Diekmann könnte Reitzle zur Seite stehen. Er kennt ihn als Linde-Aufsichtsrat. Sowohl die Versicherung als auch die Deutsche Bank haben von den strategischen Weichenstellungen Reitzles profitiert. Und Ex-Bayer-Chef Werner Wenning, der ebenfalls im Siemens-Kontrollgremium sitzt, weiß, dass sein Vorgänger in Leverkusen, Manfred Schneider, als langjähriger Linde-Aufsichtsratschef Reitzle schätzt. Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller dürfte kaum etwas gegen einen Industriekapitän an der Aufsichtsratsspitze haben. Vor allem die Arbeitnehmerbank ist nach den Erfahrungen mit Linde nicht schlecht auf ihn zu sprechen. Spätestens 2014 freiDer seit 2001 mit der Fernsehmoderatorin Nina Ruge verheiratete gebürtige Neu-Ulmer verlässt Linde als Vorstandschef im Frühjahr 2014 – mehr oder weniger widerwillig aufgrund der Regularien der Corporate Governance. Bei Linde hat er es versäumt, einen Nachfolger aufzubauen. Den will Schneider bis spätestens Jahresende präsentieren. 2012 war Reitzle mit einer Vergütung von 6,9 Mill. Euro die Nummer 6 unter den 30 Dax-Vorstandschefs.Däumchen drehen, Ruhestand im Schaukelstuhl in Bogenhausen genießen, ist Reitzles Sache nicht. Er freue sich, “mehr Gestaltungsmöglichkeiten” zu haben. 2014 wird er Verwaltungsratspräsident des Schweizer Zementherstellers Holcim. Ein Job bei Siemens dürfte nach dem Intrigantenstadl eine andere Nummer sein als der bei Conti. Eher eine Aufgabe von der Art, wie sie Paul Achleitner bei der Deutschen Bank wahrnimmt, die ihre Chaostage inzwischen hinter sich hat.