Recht und KapitalmarktGastbeitrag: Spruchverfahren

Die marktorientierte Bewertung eines Unternehmens in Strukturmaßnahmen

Der Bundesgerichtshof hat einen wegweisenden Beschluss für Gerichtsentscheidungen in Spruchverfahren gefällt. Demnach dient der Dreimonats-Börsenkurs als Grundlage für die richterliche Schätzung des Unternehmenswertes.

Die marktorientierte Bewertung eines Unternehmens in Strukturmaßnahmen

Marktorientierte Bewertung in Strukturmaßnahmen

Wegweisender BGH-Beschluss für Gerichtsentscheidungen in Spruchverfahren – Dreimonatsbörsenkurs als Grundlage für Schätzung des Unternehmenswertes

Von York Schnorbus und Manon Grimm*)

Mit dem Spruchverfahren eröffnet der Gesetzgeber Aktionären die Möglichkeit, die Angemessenheit einer im Rahmen einer gesellschaftsrechtlichen Strukturmaßnahme zu zahlenden Kompensation gerichtlich überprüfen zu lassen. Diese muss den Aktionär voll für den Verlust seines verfassungsrechtlich nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Aktieneigentums entschädigen. Das Gericht ermittelt durch eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die angemessene Abfindung; erforderlich ist, dass es die Höhe der Kompensation für plausibel hält, nicht hingegen die exakte mathematische Berechnung des Unternehmenswertes.

Ertragswertmethode dominiert

Vorherrschend in der Praxis der Unternehmensbewertung sind bislang fundamentalanalytische Wertermittlungsmethoden, insbesondere die Ertragswertmethode. Für diese hat das Institut der Wirtschaftsprüfer – IDW – einen Standard etabliert (IDW S 1), welcher stetig fortentwickelt wird. Daneben veröffentlichen das IDW und sein Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft (FAUB) Verlautbarungen zu Fachfragen der Unternehmensbewertung.

Die (mittelbare) Ermittlung des Unternehmenswertes durch das Ertragswertverfahren basiert auf der Ableitung zukünftiger Erträge des Unternehmens sowie zukunftsgerichteten Kapitalisierungszinsen. In ihren Details sind nahezu sämtliche Parameter der Ertragswertmethode höchst umstritten und naturgemäß durch die im Rahmen der Ertragswertermittlung erforderlichen Prognosen mit Unsicherheiten behaftet.

Rolle des Börsenkurses

In den letzten Jahren ist neben den fundamentalanalytischen Methoden eine weitere (marktorientierte) Bewertungsmethode auf das Parkett der Unternehmensbewertung getreten, in deren Mittelpunkt der Börsenkurs des zu bewertenden Unternehmens steht. Die Rolle des Börsenkurses besteht zum einen in der Markierung einer Untergrenze der zu gewährenden Kompensation. Zum anderen und daneben kann der Börsenkurs im Rahmen einer marktorientierten Bewertung die alleinige Grundlage zur (unmittelbaren) Bestimmung eines Unternehmenswertes in Form eines gewichteten Dreimonatsdurchschnittskurses vor dem erstmaligen Bekanntwerden der Absicht zur Durchführung der betreffenden Strukturmaßnahme darstellen.

Grundgedanke der marktorientierten Bewertungsmethode ist die Annahme, dass die Marktteilnehmer auf Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen die Ertragskraft eines Unternehmens zutreffend bewerten und sich diese Marktbewertung im Börsenkurs niederschlägt.

Der Fall TLG/WCM

Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat in drei wegweisenden Entscheidungen zu Squeeze-out-Fällen – Stinnes (2015), Nestlé (2016) und Wella (2020) – die Methodenoffenheit des Verfassungsrechts im Hinblick auf die Unternehmensbewertung betont und klargestellt, dass im Spruchverfahren eine unmittelbare Ableitung des Unternehmenswertes unter (alleinigem) Rückgriff auf den Börsenwert der Anteile des Unternehmens in Betracht kommt. Ebenso haben zahlreiche Instanzgerichte in den vergangenen Jahren die marktorientierte Bewertungsmethode anerkannt oder sogar angewandt.

Auch das Landgericht (LG) Frankfurt und das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt stützten ihre Entscheidungen in erster und zweiter Instanz im Spruchverfahren in Sachen Beherrschungsvertrag zwischen der TLG Immobilien AG und der WCM Beteiligungs- und Grundbesitzaktiengesellschaft ausschließlich auf den Börsenkurs und plausibilisierten so die Angemessenheit der vorgerichtlich nach dem Ertragswertverfahren ermittelten Abfindung in Aktien sowie des Ausgleichs.

Mit dem Verfassungsrecht vereinbar

In der Rechtsbeschwerdeinstanz hatte der BGH nunmehr zu klären, ob ein Gericht in Spruchverfahren seine gerichtliche Schätzung der angemessenen Kompensation ausschließlich auf den Dreimonatsdurchschnittsbörsenkurs stützen darf. Mit Beschluss vom 21. Februar 2023 hat der II. Zivilsenat seine in den Entscheidungen in Sachen Stinnes, Wella und Nestlé abstrakt formulierte Ansicht anhand des konkreten Falls bestätigt und den Börsenkurs als mögliche alleinige Schätzgrundlage für die Angemessenheit sowohl der Abfindung als auch des festen Ausgleichs anerkannt.

Insbesondere hebt er die Vereinbarkeit der marktorientierten Bewertung mit dem Verfassungsrecht hervor. Damit widerspricht der II. Zivilsenat eindeutig dem FAUB und prominenten Wirtschaftsprüfern, die zuletzt in Veröffentlichungen der marktorientierten Bewertung entgegengetreten sind und Börsenkursen die Fähigkeit abgesprochen haben, Unternehmenswerte widerzuspiegeln.

Welche Voraussetzungen gelten

Der II. Zivilsenat positioniert sich in seiner TLG/WCM-Entscheidung auch zu den bisher umstrittenen Voraussetzungen der Anwendbarkeit der marktorientierten Bewertungsmethode. So kann der Börsenkurs als alleinige Schätzgrundlage dann ausscheiden, wenn ein Informationsdefizit vorliegt, weil kapitalmarktrechtliche Veröffentlichungspflichten nicht eingehalten worden sind und der Börsenkurs daher „keine verlässliche Aussage über den Verkehrswert der Unternehmensbeteiligung erlaubt“. Ausreichend ist damit eine mittelstrenge Informationseffizienz; nicht erforderlich ist hingegen eine strenge Informationseffizienz dahingehend, dass die Gesamtheit aller existierenden Informationen dem Kapitalmarkt bekannt ist.

Der Börsenkurs kann im Einzelfall weiterhin dann nicht als alleinige Schätzgrundlage dienen, wenn im Referenzzeitraum eine Marktenge bestand, also keine hinreichende Liquidität der Aktien vorlag. Als Gradmesser für die Liquidität nennt der II. Zivilsenat den Bid-Ask-Spread (Geld-Brief-Spanne); je größer dieser ausfällt, desto geringer ist die Liquidität. Darüber hinaus kann es einem Börsenkurs bei Vorliegen von auffälligen Kurssprüngen oder von Kursmanipulationen an hinreichender Aussagekraft mangeln.

Keine Meistbegünstigung

Der BGH stellt in seiner TLG/WCM-Entscheidung schließlich klar, dass eine marktorientierte Schätzung auch dann in Betracht kommt, wenn der Ertragswert über dem Dreimonatsdurchschnittskurs liegt. Aus einem höheren Ertragswert ergibt sich damit keine Verpflichtung, im Sinne einer Meistbegünstigung der Minderheitsaktionäre auf den höheren Ertragswert abzustellen. Darüber hinaus betont der Bundesgerichtshof, dass Gerichte in Spruchverfahren im Hinblick auf die Wahl der Methode zur Schätzung des Unternehmenswertes frei sind und weder an die im Bewertungsverfahren zugrunde gelegte Methode noch an „von der Wirtschaftswissenschaft oder der Wirtschaftsprüferpraxis entwickelte Berechnungsweisen“ oder Bewertungsstandards wie den IDW S 1 gebunden sind. Solange aussagekräftige Börsenkurse vorliegen, steht dem Gericht eine marktorientierte Schätzung frei.

Bahnbrechende Entscheidung

Die TLG/WCM-Entscheidung ist für die Praxis bahnbrechend. Der BGH leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Reformierung des Spruchverfahrens. Er ordnet die marktorientierte Bewertungsmethode als nicht nur gleichwertige Alternative zu fundamentalanalytischen Wertermittlungsverfahren ein, sondern verdeutlicht, dass sich ein Rückgriff auf den Dreimonatsbörsenkurs geradezu aufdrängt, wenn dieser im Referenzzeitraum hinreichend aussagekräftig ist.

Denn ein ausschließliches Abstellen auf den Börsenkurs eröffnet Gerichten in Spruchverfahren einen Weg, die Frage der Angemessenheit von nach gesellschaftsrechtlichen Strukturmaßnahmen angebotenen Kompensationen einer schnellen, transparenten Klärung zuzuführen und unentwegte Diskussionen um sämtliche umstrittenen Parameter des Ertragswertverfahrens zu vermeiden.

Dies ist zu begrüßen, denn das Spruchverfahren ist kein Forum zur Klärung wirtschaftswissenschaftlich umstrittener Fragen der Unternehmensbewertung. Die marktorientierte Bewertungsmethode trägt damit entscheidend zur Beschleunigung von Spruchverfahren bei und begegnet effektiv der Gefahr überlanger Verfahrensdauern.

*) Dr. York Schnorbus ist Partner der internationalen Wirtschaftskanzlei Sullivan & Cromwell. Dr. Manon Grimm ist Rechtsanwältin der Sozietät.

Dr. York Schnorbus

ist Partner der Wirtschaftskanzlei Sullivan & Cromwell.

Dr. Manon Grimm

ist Rechtsanwältin der Wirtschaftskanzlei Sullivan & Cromwell.

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