Ein Game-Changer für die M&A-Praxis
Herr Dr. Nuys, die EU-Kommission hat einen Leitfaden zur Anwendung des Verweisungssystems nach Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung (FKVO) veröffentlicht. Was heißt das?
Nach Artikel 22 FKVO können die Mitgliedsstaaten Transaktionen, die nicht originär in den Zuständigkeitsbereich der EU-Kommission fallen, nach Brüssel zur Prüfung verweisen. Eingeführt 1989 wurde die Vorschrift als „holländische Klausel“ bekannt. Denn ursprünglich sollte sie Mitgliedsstaaten, die kein eigenes Fusionskontrollregime haben – wie damals die Niederlande –, aber nachteilige Auswirkungen einer Transaktion auf den Wettbewerb in ihrem Land befürchten, den Weg zur EU-Kommission ebnen. In der Praxis führte die Norm bislang ein Schattendasein: In den vergangenen 30 Jahren wurden nicht einmal 40 Transaktionen an die EU-Kommission verwiesen. Der Leitfaden ist für die Mitgliedsstaaten nicht bindend. Trotzdem dürfte die Vorschrift nun deutlich an Bedeutung gewinnen.
Wie wurde die Verweisung bislang gehandhabt?
Der Wortlaut der Vorschrift ist weit und erlaubt es schon bisher Mitgliedsstaaten, auch wenn sie nicht zuständig sind, bei Wettbewerbsbedenken eine Verweisung zu beantragen. Gleichwohl haben viele Staaten – unter anderem Deutschland – die Vorschrift bisher eng ausgelegt: Eine Verweisung wurde nur dann erwogen, wenn der jeweilige Mitgliedsstaat zwar selbst für eine Prüfung zuständig gewesen wäre, er die EU-Kommission im konkreten Fall aber für besser berufen hielt. Beim Erwerb von MWM durch Caterpillar stellte das deutsche Bundeskartellamt einen Verweisungsantrag, weil die Auswirkungen des Vorhabens über Deutschland hinausgingen. Bei fehlender eigener Zuständigkeit wurde von einer Verweisung in der Regel Abstand genommen. Die EU-Kommission unterstützte diese Lesart ausdrücklich.
Warum dann jetzt ein Schwenk?
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat bereits 2020 angekündigt, von der bisherigen Empfehlung abrücken zu wollen. Details waren bislang unklar. Auslöser dieses Sinneswandels war, dass die EU-Kommission ein Enforcement Gap bei sogenannten „Killer Acquisitions“ ausgemacht haben will. Diese vermeintliche Lücke soll über die neue Anwendungspraxis geschlossen werden. Auch nach den Leitlinien bleiben viele Fragen unbeantwortet. Gleichwohl bedeutet die neue Linie für die M&A-Praxis einen „Game Changer“.
Warum hat der neue Leitfaden eine so große Bedeutung? Wo können Probleme auftreten?
Die EU-Kommission führt de facto ein „Post-Closing“-Fusionskontrollregime ein. Sprich: Auch vollzogene Transaktionen können verwiesen und – im Worst Case – „aufgeschnürt“ werden. Problematisch ist, dass klare Vorgaben fehlen, wie lange ein Vorhaben verweisungsfähig ist. Die Behörden sollen 15 Arbeitstage nach Kenntnis den Verweisantrag stellen. Unklar ist, welche Informationstiefe für „Kenntnis“ notwendig ist. Es ist mitnichten so, dass ausschließlich „Killer Acquisitions“ – die üblicherweise von Wettbewerbsbehörden im Pharma- und Tech-Branche befürchtet werden – erfasst wären. Die Leitlinien stellen klar, dass die neue Praxis nicht auf einzelne Wirtschaftszweige beschränkt ist. Will heißen: Auch traditionelle Industrien wie der Automobilsektor können erfasst sein.
Welche Konsequenzen sollten Unternehmen für M&A-Transaktionen ziehen?
Lassen sich Wettbewerbsbedenken nicht eindeutig ausschließen, muss die Möglichkeit einer Verweisung während des M&A-Prozesses bedacht werden. Mit Blick auf den Kaufvertrag kann das beispielsweise heißen: Long-Stop Dates müssen Puffer vorsehen sowie Rückabwicklungsmechanismen und Mitwirkungspflichten verhandelt werden, etwa bei der Erstellung von Anmeldungen oder Informationsschreiben an Behörden. Gut überlegt sein will auch, wann man die nationalen Wettbewerbsbehörden einbindet. Mit Blick auf die Transaktionssicherheit mag es sich anbieten, dies frühzeitig und detailliert zu tun. In Einzelfällen kann es jedoch strategisch sinnvoller sein kann, unmittelbar nach dem Signing das Vorhaben zu vollziehen und so Maßnahmen der Behörden zuvorzukommen.
Dr. Marcel Nuys ist Partner von Herbert Smith Freehills in Düsseldorf. Er leitet die deutsche Kartellrechtspraxis der Kanzlei.
Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.