Eine Erfolgsgeschichte feiert Jubiläum
Von Hartwin Bungert*)
Nach einer quälend langen Vorgeschichte haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 („Wunder von Nizza“) auf das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) geeinigt. Am 8. Oktober 2001 konnten durch den Rat die SE-Verordnung und die SE-Beteiligungsrichtlinie verabschiedet werden. Das ist 20 Jahre her!
Viele bezweifelten seinerzeit, dass sich die SE durchsetzen würde oder überhaupt eine sinnvolle Gesellschaftsform sei. Zu sperrig, zu komplex, langwierige Gründung! Sie sollten eines Besseren belehrt werden. Zum Jahreswechsel 2020/2021 firmierten in der EU stolze 3358 Unternehmen als SE, davon 718 SEs in Deutschland.
Freilich ist die Anzahl der operativ tätigen SEs im Vergleich zu Vorratsgesellschaften bzw. SEs ohne Arbeitnehmer um einiges kleiner, nämlich 413. Aber es gibt viele prominente SEs. So sind seit der frühen spektakulären Umwandlung der Allianz in eine SE 13 SEs im Dax vertreten und neun im MDax. Bekannte SE-Namen sind Airbus, BASF, Bilfinger, Eon, MAN, Porsche, ProSiebenSat.1, Puma, SAP, Sixt, Springer, Vonovia und Zalando. Deutschland steht damit sehr gut da.
Spitzenreiter in Europa ist allerdings – wer hätte das gedacht – Tschechien, wo es ca. 2160 SEs gibt. Dort handelt es sich überwiegend – neben Vorratsgesellschaften – um Beteiligungs- und Zwischenholdinggesellschaften mit weniger als fünf Arbeitnehmern, die den Corporate-Governance-Rahmen der SE gegenüber dem nationalen Gesellschaftsrecht bevorzugen.
In vielen Fällen wurde die SE aus Gründen der Mitbestimmung gewählt. Ist es bei der SE doch – anders als bei deutschen Kapitalgesellschaften – möglich, das Statut der Mitbestimmung mit der Arbeitnehmerseite zu verhandeln und grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Gründungsstadiums der SE „einzufrieren“. Von den 413 deutschen SEs mit Arbeitnehmern sind 21 paritätisch mitbestimmt, 48 drittelparitätisch oder in anderer Form mitbestimmt und der Rest nicht mitbestimmt.
Die Besonderheit bei der paritätisch mitbestimmten SE ist, dass die Hauptversammlung und damit die Anteilseigner die Anzahl der Mitglieder im Aufsichtsrat festlegen können. Anders als bei der deutschen paritätischen Mitbestimmung ist diese also nicht vom Gesetz in Abhängigkeit von der Anzahl der (in Deutschland tätigen) Arbeitnehmer streng vorgegeben. So kann die Verkleinerung eines 20er Aufsichtsrats bei der AG zu einem 12er Aufsichtsrat bei der SE durchaus der Effizienz der Gremienarbeit dienen.
Viele Vorteile
Im Laufe der vergangenen zehn Jahre ist die Gesamtzahl der SEs mit Arbeitnehmern sowohl in Deutschland als auch in der EU insgesamt konstant gestiegen. Im Vergleich zu 92 SEs mit Arbeitnehmern und Sitz in Deutschland im Jahr 2011 hat sich die Zahl bis 2020 mehr als vervierfacht. Ein vergleichbarer Anstieg lässt sich bei der Gesamtzahl der SEs im europäischen Wirtschaftsraum verzeichnen, nämlich von 197 SEs mit Arbeitnehmern im Jahr 2011auf 749 in 2020.
Neben dem speziellen Mitbestimmungsregime liegen weitere Vorteile auf der Hand: In einem SE-Konzern ist es nicht notwendig, in vielen europäischen Ländern Tochtergesellschaften zu unterhalten. Diese können vielmehr als Betriebe in die SE integriert werden, sofern nicht aus steuerlichen Gründen eine gesellschaftsrechtliche Basis in anderen EU-Mitgliedstaaten erforderlich ist. Die europäische „Corporate Identity“. Die Möglichkeit der rechtsformwahrenden Sitzverlegung in einen anderen EU-Mitgliedstaat. Der letztgenannte Vorteil wird allerdings durch die geplante Umsetzung der Mobilitätsrichtlinie vom 27. November 2019 (RL 2019/1212) und den damit verbundenen zukünftigen Möglichkeiten grenzüberschreitender Umwandlungen (Formwechsel, Aufspaltung und die Überarbeitung der bereits etablierten Verschmelzung) deutlich relativiert.
Kaum Rechtsstreitigkeiten
Erstaunlich auch: Trotz vieler schwieriger Rechtsfragen aus dem Normenverhältnis der SE-Gesetzgebung auf EU-Ebene, dem deutschen Ausführungsgesetz und dem als Auffangregelung anwendbaren deutschen Aktienrecht hat es kaum Rechtsstreitigkeiten mit SE-Rechts-Bezug vor den deutschen Gerichten gegeben, sieht man von wenigen mitbestimmungsrechtlichen Streitigkeiten ab. Minderheitsaktionäre haben hier offensichtlich keinen Streit gesucht.
Bis Ende Dezember 2023 muss der deutsche Gesetzgeber – wie die anderen EU-Mitgliedstaaten auch – die EU-Mobilitätsrichtlinie umsetzen. Dort gibt es einige innovative Elemente, die man auch auf die SE-Gründung ausrollen sollte. Insbesondere sollte auch die Spaltung zur Neugründung als Gründungsform für die SE zugelassen werden. Die Möglichkeit, dass die übernehmende Gesellschaft die Korrektur des Umtauschverhältnisses bei der Verschmelzung aufgrund eines gerichtlichen Spruchverfahrens durch Ausgabe zusätzlicher Aktien statt durch bare Zuzahlung erfüllen kann, sollte auch für die SE-Gründung vorgesehen werden. Und zwar – wie in der Mobilitätsrichtlinie – auch für die Anteilseigner der übernehmenden Gesellschaft.
*) Dr. Hartwin Bungert ist Partner der Kanzlei Hengeler Mueller in Düsseldorf.