Ryanair-Urteil

EuGH-Entscheidung hat Sprengkraft

Bislang weitgehend unbemerkt hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 18. November 2020 in der Rechtssache C-519/19 ein Urteil ge­sprochen, dessen mögliche Sprengkraft nicht unterschätzt werden darf. Neben – hier nicht relevanten – Aussagen zum...

EuGH-Entscheidung hat Sprengkraft

Bislang weitgehend unbemerkt hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 18. November 2020 in der Rechtssache C-519/19 ein Urteil ge­sprochen, dessen mögliche Sprengkraft nicht unterschätzt werden darf. Neben – hier nicht relevanten – Aussagen zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen trifft er darin auch Feststellungen zur Reichweite von Gerichtsstandsvereinbarungen, die bei Unternehmen Anpassungen in der Vertragsgestaltung sowie eine Berücksichtigung bei künftigen Rechtsstreitigkeiten erforderlich machen dürften.

Vorangegangen war dem Urteil ein Rechtsstreit zwischen der Passenger Rights sp. z o.o. (jetzt: Delayfix) mit Sitz in Warschau als Klägerin gegen die Fluggesellschaft Ryanair DAC mit Sitz in Dublin vor Gerichten in Warschau. Streitgegenständlich war eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung. Den entsprechenden Anspruch hatte ein Fluggast an Delayfix abgetreten, die auf den Forderungseinzug dieser Art von Ansprüchen spezialisiert ist. Delayfix hatte die Klage in Warschau erhoben, obwohl der Beförderungsvertrag zwischen dem Fluggast und Ryanair eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte in Dublin vorsah.

Eine entsprechende Vereinbarung ist bei Beförderungsverträgen nach dem europäischen internationalen Zivilprozessrecht grundsätzlich zu­lässig (Art. 17 Abs. 3 Brüssel-Ia-Verordnung). Ryanair hatte sich in der Vergangenheit in Rechtsstreitig­keiten auch erfolgreich auf diese Gerichtsstandsvereinbarung berufen.

Erstaunliche Entscheidung

Der EuGH entschied nunmehr, dass – unabhängig von einer AGB-rechtlichen Bewertung – Ryanair die Gerichtsstandsvereinbarung einem Dritten (hier also einem Abtretungsempfänger wie Delayfix) grundsätzlich nicht entgegenhalten könne. Dies könne nur dann anders sein, wenn der Dritte „in alle Rechte und Pflichten der ursprünglichen Vertragspartei eingetreten ist“. Diese Bewertung des EuGH folgt aus einer allgemeinen Auslegung der für Gerichtsstandsvereinbarungen maßgeblichen Vorschrift des europäischen internationalen Zivilprozessrechts (Art. 25 Brüssel-Ia-Verordnung) und ist insofern nicht nur für Beförderungs-, sondern für alle Verträge relevant.

Zwar knüpft der EuGH damit an vergangene Rechtsprechung an, doch tritt diese Aussage erstmals hier so deutlich zu Tage. Sie widerspricht überdies der Rechtswirklichkeit und ständigen Rechtsprechung jedenfalls in Deutschland. Hierzulande wird eine Zuständigkeitsvereinbarung bei der Abtretung als Eigenschaft des abgetretenen Rechts verstanden. Die deutsche Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass eine zwischen den ursprünglichen Vertragsparteien vereinbarte Schieds- oder Gerichtsstandsklausel grundsätzlich auf den Abtretungsempfänger mit übergeht, sofern nichts Gegenteiliges vereinbart oder aus den Umständen ersichtlich ist.

Erstaunlich sind auch die sich aus dem Urteil ergebenden potenziellen Konsequenzen. Aus Sicht eines beklagten Unternehmens verursacht diese Rechtsprechung Unsicherheit im Hinblick auf die Verlässlichkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass mittlerweile Klägerkanzleien und Prozessfinanzierer bei jedem größeren Schadensereignis Verbrauchern und Unternehmern die Durchsetzung ihrer Ansprüche mittels Klagevehikeln anbieten. An diese Klagevehikel sind die durchzusetzenden Ansprüche typischerweise abzutreten, wodurch eine eigentlich geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung möglicherweise plötzlich ins Leere geht.

Aus der Sicht eines klagenden Unternehmens ist die Bindung an eine „lästige“ Gerichtsstandsvereinbarung möglicherweise nicht so fest wie angenommen; dies eröffnet Spielräume für die Prozessstrategie, die gegebenenfalls vom Vorstand oder der Geschäftsführung im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten ausgelotet werden müssen. Die Voraussetzungen, unter denen eine Gerichtsstandsvereinbarung nicht eingreift, sind nach dem Urteil des EuGH folgende:

Erstens muss es sich um einen europäisch-grenzüberschreitenden Sachverhalt handeln, damit Art. 25 Brüssel Ia-VO anwendbar ist – ein rein deutscher Fall reicht nicht aus. Ein zunächst lediglich nationaler Fall wird allerdings wohl schon dann zu einem internationalen Fall, wenn eine Partei entgegen einer Gerichtsstandsvereinbarung in einem anderen Mitgliedsstaat klagt.

Zweitens geht der EuGH davon aus, dass ein Dritter dann doch an eine Gerichtsstandsvereinbarung gebunden sein kann, wenn er in alle Rechte und Pflichten der ursprünglichen Vertragspartei eingetreten ist. Wann dies anzunehmen ist, sagt der EuGH nicht, sondern überlässt die Bewertung dem jeweils berufenen nationalen Gericht.

EuGH lässt Spielraum

Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung und Literatur in Deutschland wird man das annehmen dürfen bei einer Gesamtrechtsnachfolge, bei einer Schuldübernahme, aber nicht bei einem bloßen Schuldbeitritt und nach dem EuGH nunmehr auch nicht (ohne Weiteres) bei einer bloßen Abtretung. Solange es hierzu aber keine Rechtsprechung des EuGH gibt, bleibt ein gewisses Risiko, dass es auf der EU-Ebene anders gesehen wird.

Auch für die Frage, nach welchem Recht diese Frage zu beantworten ist, lässt der EuGH Spielraum. Denn er verweist (in widersprüchlicher Weise) sowohl auf das in der Sache anwendbare Recht, als auch auf das Recht desjenigen Staates, der in der Gerichtsstandsvereinbarung vorgesehen ist.

Ungeachtet dieser Unsicherheiten und der weiteren Frage, ob es nicht auch im Rahmen von Abtretungen (in diesem Urteil nicht diskutierte) Argumente für eine Bindung des Abtretungsempfängers gibt, bietet sich für Unternehmen nun folgendes „Prüfprogramm“ an:

Es sollte erstens überprüft werden, ob die in eigenen Verträgen verwendeten Gerichtsstandsvereinbarungen „abtretungssicher“ gemacht werden können. Dabei ist an Abtretungsverbote, vertragsstrafenbewehrte Verpflichtungen des Vertragspartners im Falle der Abtretung, die Nutzung von Schiedsklauseln statt Gerichtsstandsvereinbarungen oder die Vereinbarung der Zuständigkeit von Gerichten eines Nicht-EU-Staates zu denken.

Erfolgs- und Kostenfaktor

Spiegelbildlich sollte zweitens im Falle eines Rechtsstreits bei Ausarbeitung der Prozessstrategie überprüft werden, ob die „Fesseln“ einer unliebsamen Gerichtsstandsvereinbarung nicht nur lose gebunden sind. Oftmals werden bereits jetzt Forderungen etwa bei Konzerngesellschaften oder bei Dritten gebündelt und zu diesem Zweck abgetreten. Das Urteil des EuGH gibt jetzt noch einen weiteren Grund, über solche Gestaltungen (allgemein oder im Einzelfall) nachzudenken.

Ob der EuGH dem Rechtsverkehr damit einen Gefallen getan hat, ist durchaus fraglich. Dies ändert aber nichts daran, dass sich insbesondere Unternehmen mit den daraus folgenden Auswirkungen beschäftigen werden müssen.

Denn der Gerichtsstand, an dem ein Rechtsstreit vor staatlichen Gerichten geführt wird, ist ein wesentlicher Erfolgs-, Zeit- und Kostenfaktor. So kann eine Klage beim falschen Gericht negative Auswirkungen auf die gewünschte Verjährungshemmung haben.

Ist eine Klage im Ausland notwendig, ergeben sich Sprachbarrieren und nicht unerhebliche Übersetzungs- und Dolmetscherkosten. Auch sind lokale Anwälte erforderlich, mit denen gegebenenfalls bislang noch keine Geschäftsbeziehung bestand. Schließlich kann ein Verfahren je nach Gerichtsstand erheblich länger dauern und kostspieliger sein. Es verwundert deshalb nicht, dass AGB und Verträge regelmäßig Gerichtsstandsvereinbarungen enthalten.

Ob diese nach dem Urteil des EuGH noch in ihrer alten Form Bestand haben, ist durchaus fraglich.