Thomas Burmeister

Europäischer Gerichtshof stärkt die Bundes­netz­agentur

Der Europäische Gerichtshof fordert die völlige Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur. Thomas Burmeister, Partner von White & Case und Leiter der deutschen Energiegruppe der Kanzlei, erläutert die Tragweite des Urteils.

Europäischer Gerichtshof stärkt die Bundes­netz­agentur

Sabine Wadewitz

Herr Burmeister, der Europäische Gerichtshof (EuGH) verlangt im Ur­teil vom 2.9.2021 (Az. C-718/18) die „völlige Unabhängigkeit“ der Bundesnetzagentur. Wie weitgehend ist die Forderung?

Der EuGH hat entschieden, dass die Bundesnetzagentur nicht über die nach Europarecht erforderliche ausreichende Unabhängigkeit verfügt. Detaillierte gesetzliche Regelungen und zahlreiche Verordnungen der Bundesregulierung würden den behördlichen Entscheidungsspielraum bei der Regulierung der monopolistischen Strom- und Gasnetze zu sehr einschränken. Das Unionsrecht verlange dagegen die vollständige Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde von der Regierung und auch vom nationalen Gesetzgeber, damit jede politische Einflussnahme ausgeschlossen ist.

Kann eine deutsche Behörde vom Gesetzgeber überhaupt unabhängig sein?

Verfassungsrechtlich ist diese Unabhängigkeit einer Verwaltungsbehörde vom Gesetzgeber nicht mit dem nationalen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit zu vereinbaren. Die Gewaltenteilung ist Kernbestandteil des Demokratieprinzips, das heißt die Bindung der Verwaltung an die Vorgaben des parlamentarischen Gesetzgebers und die Kontrolle durch die Rechtsprechung. Der EuGH sieht da­ge­gen auch die gesetzlichen Vorgaben als unzulässige Einflussnahme an und rechtfertigt dies damit, dass es be­reits auf EU-Ebene einen ausreichend detaillierten Rechtsrahmen gebe.

Welche Folgen hat das Urteil für die Praxis?

Der EuGH drängt nicht nur die Bundesregierung, sondern auch den deutschen Gesetzgeber zum Rückzug und stärkt dadurch die Bundesnetzagentur, die damit endgültig zur zentralen Instanz für die Energiewende wird. Zugleich bedeutet das Urteil einen Machtzuwachs für europäische Institutionen, die nun stärker die Leitlinien des behördlichen Handelns bestimmen können. Hinzu kommt, dass der Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung der Bundesnetzagentur ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares „Regulierungsermessen“ zuspricht. Dadurch droht nun ein Rechtsschutz-Vakuum, weil der EuGH die Rechtsetzungskompetenz des Gesetz­gebers beschneidet, während der BGH die Kontrolldichte der Rechtsprechung reduziert. Dies fördert eine behördliche und gerichtliche „Flucht ins Regulierungsermessen“, was in Anbetracht der Herausforderungen für den Energiemarkt erhebliche Rechtsunsicherheit bedeuten könnte.

Wie kann ein Zustand der Rechtsunsicherheit verhindert werden?

Der Gesetzgeber wird reagieren müssen, indem er Leitlinien für die Bundesnetzagentur schafft, die den Marktteilnehmern ausreichend Rechtssicherheit vermitteln. Der BGH könnte dem Rechtsschutz-Vakuum durch Fortentwicklung seiner Rechtsprechung zur Kontrolle be­hördlicher Entscheidungsspielräume entgegenwirken. Diese darf sich nicht mehr auf die Prüfung beschränken, ob der Ansatz der Bundesnetzagentur von vornherein un­geeignet war und eine andere Methode deutlich überlegen wäre. Stattdessen müssen sich Bundesnetzagentur und Gerichte an klaren gesetzlichen Berücksichtigungsgeboten orientieren können.

Wie geht es weiter?

Der Bundesnetzagentur wird daran liegen, dass ihre Entscheidungen eine ausreichend hohe Akzeptanz unter Marktteilnehmern genießen. Der auch gelegentlich zu beobachtende Rückzug auf die Rolle einer Preissenkungsbehörde wird daher nicht mehr genügen, sie muss sich stattdessen weiter in die aktiv gestaltende Rolle einer Klimaschutzbehörde begeben. In einer Pressemitteilung zum Urteil hat die Bundesnetzagentur für die Übergangsphase bis zu einer Umsetzung der Entscheidung durch den nationalen Gesetzgeber bereits klargestellt, dass sie weiterhin das geltende deutsche Recht anwenden wird. Auch der BGH hat bereits entschieden, dass es auch im Falle der Unionsrechtswidrigkeit nicht zu einer sofortigen Nichtanwendbarkeit der deutschen Vorgaben bzw. zu einer unmittelbaren Anwendung des europäischen Richtlinienrechts komme (Az. EnVR 58/18). Vielmehr sei die Anpassung der Regelungen durch den deutschen Gesetzgeber abzuwarten.

Thomas Burmeister ist Partner von White & Case, Düsseldorf, und Leiter der deutschen Energiegruppe.

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