Kartellschadenersatz

Kinder haften für ihre Eltern

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs stärkt die Rechte von Geschädigten in Kartellverfahren. Für den Kartellverstoß der Muttergesellschaft können auch Tochterfirmen in Anspruch genommen werden.

Kinder haften für ihre Eltern

Von Tim Schaper*)

An der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen gegen Kartellanten haben sich Unternehmen bisher oft die Zähne ausgebissen, insbesondere bei komplexen internationalen Konzernstrukturen. Doch nun erhalten durch Kartellabsprachen geschädigte Unternehmen deutlich bessere Chancen, ihre Ansprüche durchzusetzen. Künftig können sie leichter auch gegen Tochtergesellschaften eines kartellbeteiligten Mutterkonzerns Schadenersatz durchsetzen.

In einem Grundsatzurteil entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dass Geschädigte auch von der Tochtergesellschaft eines Konzerns Ersatz für die aus den Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht entstandenen Schäden verlangen können (Aktenzeichen: C-882/19).

Klage gegen Daimler-Tochter

Geklagt hatte der spanische Containerhersteller Sumal S.L. gegen die Mercedes Benz Trucks España, S.L. (MBET), die spanische Tochtergesellschaft der von der Europäischen Kommission im Lkw-Kartell 2016 bebußten Daimler AG. Das zuständige spanische Provinzgericht hatte dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Tochter MBET für den Kartellverstoß der Mutter, Daimler, zivilrechtlich in Anspruch genommen werden könne.

Diese Frage bejaht der Europäische Gerichtshof: Eine zivilrechtliche Inanspruchnahme der Tochter ist möglich, wenn zwischen den beiden rechtlichen Einheiten – Mutter und Tochter – zum Zeitpunkt des Kartellverstoßes eine „funktionale wirtschaftliche Einheit“ bestand. Dies ist der Fall, wenn bei Betrachtung der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen zwischen beiden juristischen Personen davon auszugehen ist, dass die Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht selbständig bestimmt, sondern im Wesentlichen die Anweisungen der Muttergesellschaft befolgt und auf dem gleichen sachlichen und geografischen Produktmarkt wie die Mutter tätig ist.

Damit stellt der Gerichtshof klar, dass der seit jeher im EU-Kartellverfahrensrecht für die Verhängung von Geldbußen geltende weite Unternehmensbegriff, der Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“, auch in Schadenersatzklagen vor nationalen Gerichten Anknüpfungspunkt für die zivilrechtliche Haftung ist – unter der einschränkenden Voraussetzung, dass Mutter und Tochter auch eine funktionale Einheit bilden. Dann gelten Mutter- und Tochtergesellschaft als ein und dasselbe Unternehmen und haften gesamtschuldnerisch für Zuwiderhandlungen des jeweils anderen.

Die Klägerin kann sich für die Zwecke des Schadenersatzverfahrens gegen die Tochtergesellschaft sogar auf die Bindungswirkung des gegen die Muttergesellschaft erlassenen Bußgeldbescheides berufen. Die von der Kommission bebußte Zuwiderhandlung wird in dem Verfahren vor dem nationalen Zivilgericht damit als feststehend zugrundegelegt und kann von der Tochtergesellschaft nicht mehr bestritten werden. Sie muss sich also den Rechtsverstoß der Mutter zurechnen lassen.

Anknüpfen an Skanska-Urteil

Mit der Entscheidung knüpft der Gerichtshof an das Skanska-Urteil aus dem Jahr 2019 an (Aktenzeichen: C-724/17). Hier legte das höchste europäische Gericht den Grundstein für die Übertragung des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit vom Kartellverfahrens- auf das Kartellschadenersatzrecht.

Allerdings beschäftigte sich das Skanska-Urteil vornehmlich mit der Frage der Haftung des Rechtsnachfolgers eines Kartellteilnehmers und in diesem Kontext lediglich indirekt mit der zivilrechtlichen Haftung der Mutter- für die Tochtergesellschaft. Nun steht die deutlich brisantere Haftung einer Tochtergesellschaft für Zuwiderhandlungen der Mutter im Fokus.

Die Übertragung der sogenannten „Sippenhaft“ auf zivile Schadenersatzverfahren wurde und wird im deutschen Recht vielfach kritisch gesehen. Die Begründung des Gerichtshofs, der Unternehmensbegriff müsse im Kartell- und Schadenersatzrecht einheitlich ausgelegt werden, wurde teilweise von deutschen Instanzgerichten auch noch nach der Skanska-Entscheidung als Widerspruch zum im deutschen Gesellschaftsrecht verankerten Trennungsprinzip gesehen.

Der Bundesgerichtshof (BGH) schwenkte im Januar des Jahres 2020 in seinem Urteil Schienenkartell II bereits auf die Linie des Gerichtshofs ein. Auf eine Klarstellung im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wartete die Fachwelt im Zuge der letzten Reform im Januar 2021 allerdings vergeblich.

Weitreichende Folgen

Mit der jetzigen Entscheidung werden die Rechte von Klägern in Kartellschadenersatzverfahren er­heblich gestärkt. Der Gerichtshof stellt klar, dass sich die Bestimmung des zum Schadenersatz Verpflichteten im Sinne einer möglichst effektiven Kartellrechtsdurchsetzung un­mittelbar aus dem EU-Recht und nicht aus dem nationalen Recht ergibt.

Die potenziellen Folgen sind weitreichend: Das Urteil hat nicht nur Auswirkungen auf die Zivilklage im Zusammenhang mit dem Lkw-Kartell in Spanien, sondern auf sämtliche anhängigen und folgenden Kartellschadenersatzklagen in allen EU-Mitgliedstaaten­ – über das Lkw-Kartell hinaus.

*) Tim Schaper ist Partner in der Kartellrechtspraxis von Norton Rose Fulbright in Hamburg.