Neue alte Welt
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Konflikte um die Rückkehr zu präpandemischen Abläufen, Aktivisten und ESG-Themen prägen die Hauptversammlungssaison 2023
Von Simon Schwarz und Philip Denninger *)
Mit der ersten Jahreshälfte neigt sich für Unternehmen mit kalendarischem Geschäftsjahr die aktuelle Hauptversammlungssaison ihrem Ende zu. In der ersten Saison nach Ende der Pandemie, die auch für Aktionärsversammlungen große Umbrüche mit sich gebracht hat, bestimmt eine Grundsatzfrage wie kaum ein anderes Thema die Debatten: Sollte es eine Rückkehr zu alten Mustern und dabei insbesondere zum Präsenzformat geben?
Rund drei Viertel der betroffenen Aktiengesellschaften deutscher Rechtsform im Dax40 und etwas mehr als die Hälfte im MDax haben diese Frage in der Saison 2023 zugunsten des virtuellen Formats beantwortet, das bei größeren Versammlungen deutliche Kostenvorteile bietet. Obwohl der Gesetzgeber die virtuelle Versammlung im vergangenen Jahr erheblich reformiert und in Sachen Aktionärsrechte an die Präsenzversammlung angeglichen hat, werden Unternehmen dafür von Aktionärsverbänden und Investoren scharf kritisiert.
“Kinderkrankheiten”
Zwar hat die durch den Gesetzgeber vorgegebene, deutlich gesteigerte Interaktivität in den technischen Abläufen mancher Hauptversammlung noch Kinderkrankheiten in Form von kürzeren oder zum Teil auch längeren Störungen offenbart. Einzelne Aktionärsverbände sahen sich gar zur Einrichtung eines digitalen „Hauptversammlungs-Störungsmelders“ veranlasst.
Jedoch werden hier die mit der technischen Abwicklung beauftragten Hauptversammlungsdienstleister durch weitere technische Verbesserungen dafür sorgen, dass die Abläufe künftig noch reibungsloser werden, wodurch die Zuverlässigkeit des neuen Formats weiter gestärkt wird. Jedenfalls haben sich praktisch alle Unternehmen der Dax-Familie die Option einer virtuellen Hauptversammlungen durch entsprechende Satzungsermächtigungen für weitere zwei bis fünf Jahre gesichert.
Ein weiteres Beispiel für den Konflikt über eine Rückkehr zu alten Mustern ist die Frage nach der Präsenz der Mitglieder des Aufsichtsrats. Richtigerweise bietet das Gesetz die Möglichkeit, ihnen im Fall der virtuellen Versammlung eine Fernteilnahme zu gestatten. Die weit überwiegende Mehrheit von Unternehmen hat das aufgegriffen und eine entsprechende Regel vorgeschlagen, dafür aber zum Teil herbe Kritik geerntet.
Debatte verhärtet
Diese Reaktion ist überraschend, denn gerade auch bei einer physischen Hauptversammlung nehmen einfache Aufsichtsratsmitglieder nach dem gesetzlichen Modell nur eine passive Rolle ohne jeden Beitrag zur Diskussion ein. Eine Pflicht zur Anreise zu einem virtuellen Format ohne jede Präsenz von Aktionären bringt daher erst recht keinen zusätzlichen Nutzen und ist zudem nicht nachhaltig. Dass gleichwohl auch dieses Thema zum Stein des Anstoßes wurde, zeigt, wie verhärtet die Debatte um jegliche Zugeständnisse in Richtung einer virtuellen Versammlung geworden ist.
Der wiederkehrende Hinweis, Unternehmen könnten auch ein Hybridformat – das heißt eine Präsenzversammlung mit Möglichkeit der Fernteilnahme – wählen, überzeugt dabei nicht. Dieses Modell hat seit seiner Einführung im Jahr 2009 kaum praktische Bedeutung erlangt. Wegen des doppelten Aufwands, erhöhter Kosten und vor allem deutlich erhöhter Anfechtungsrisiken wird ihm wohl zu Recht auch für die Zukunft keine Relevanz beschieden sein.
Damoklesschwert
Die von vielen Aktionärsverbänden geforderte hybride Versammlung dürfte für die Unternehmen erst dann attraktiv werden, wenn sich der Gesetzgeber zu einer Reform des Beschlussmängelrechts durchringen könnte. Die große Mehrzahl der Unternehmen hätte durchaus Interesse an einem offeneren, lebendigeren und weniger von Formalitäten geprägten Austausch, wenn nicht bei jedem falschen Wort das Damoklesschwert der Anfechtung über den Beschlüssen hinge. Erfreulicherweise hat die Ampelkoalition angekündigt, dieses Thema angehen zu wollen. Dort wird dann eine der großen kommenden rechtspolitischen Debatten liegen.
Aktivisten zwischen Rendite und Gewissen
Auch Aktivisten haben in dieser Saison wieder manche Hauptversammlung geprägt. Vor allem kurzfristig orientierte Hedgefonds nehmen immer häufiger deutsche Unternehmen ins Visier, um einen Strategiewechsel zu erzwingen und so (vermeintliches) Renditepotenzial zu heben. Zu den Zielscheiben zählten in jüngerer Zeit beispielsweise Brenntag, die Deutsche Pfandbriefbank, Bayer und Fresenius.
Vorbereitung ist alles
Die Investoren nutzen dabei gezielt die Instrumente der Hauptversammlung und versuchen, durch Kampagnen die Unterstützung von Stimmrechtsberatern und größeren Aktionären zu sichern. Neben der Platzierung von Vertretern im Aufsichtsrat richten sich die Forderungen immer wieder auch auf eine Aufspaltung, Abverkäufe oder sonstige Umstrukturierungen.
Der Schlüssel für eine erfolgreiche „activist defence“ liegt dabei in einer sorgfältigen Vorbereitung. Das bedeutet zum einen, im Rahmen eines Frühwarnsystems die Perspektive der Aktivisten einzunehmen, laufend mögliche Angriffspunkte zu identifizieren (zum Beispiel Schwächen im operativen Geschäft, Diskrepanzen zwischen Buch- und Börsenwert, Abverkaufspotenziale, hohe Cash-Reserven oder auch mögliche Zukäufe) und Reaktionsabläufe für den Ernstfall vorzubereiten. Zum anderen sollte das Management darauf bedacht sein, sich durch eine transparent kommunizierte, überzeugende Langfriststrategie den Rückhalt der Stimmrechtsberater, anderer Investoren und Aktionärsverbände zu sichern.
Ein aktuelles Beispiel stellt die Brenntag SE dar: Obwohl sich zwei große Stimmrechtsberater auf die Seite des Aktivisten Primestone stellten, gelang es dem Management des Weltmarktführers in der Distribution von Chemikalien, sich durch eine überzeugende Planung und eine glaubhafte Reformstrategie den Rückhalt institutioneller Investoren und wichtiger Aktionärsverbände zu sichern. Zusammen mit einer akribischen Vorbereitung der Abstimmung gelang es auf diese Weise, eine kurzfristig orientierte, aktivistische Attacke erfolgreich abzuwehren.
Dauerbrenner Nachhaltigkeit
Doch nicht allen Aktivisten geht es um schnelle Renditenmaximierung. In zunehmenden Maße suchen Aktivisten die Hauptversammlung als Sprechbühne für geo-, sozial- oder klimapolitische Positionen. Ein verstärktes Klimabewusstsein wird immer häufiger auch von größeren Investoren eingefordert. Dies schließt den Versuch ein, Unternehmen zu einer umfassenderen, über das gesetzliche Maß hinausgehenden Berichterstattung zu veranlassen.
Richtigerweise kann die Hauptversammlung dem Vorstand hierzu auch im Wege einer Satzungsänderung keine Vorgaben machen, was Gerichte mittlerweile bestätigt haben. Gleichwohl entscheiden sich die Unternehmen häufig mit guten Gründen dafür, in einen konstruktiven Dialog zu treten und dem Anliegen der gesteigerten Transparenz in angemessenen Umfang auf freiwilliger Basis entgegenzukommen.
Der Themenkomplex ESG prägt damit – kaum überraschend – auch im Jahr 2023 die Debatten. Strapazierte Lieferketten, in denen kraft deutscher und europäischer Gesetzgebung in Zukunft deutlich stärker auf umwelt- und menschenrechtliche Standards geachtet werden muss, die Energiekrise und die drohende Verfehlung der Klimaziele führen dazu, dass sich Unternehmen in der Hauptversammlung immer häufiger auch kritischen Fragen zur Werteorientierung ausgesetzt sehen.
Praxistest von Alzchem
Für die nähere Zukunft wird dabei nicht zuletzt spannend sein, ob sich rechtspolitische Forderungen nach einer konsultativen Abstimmung der Hauptversammlung über die Klimastrategie („say on climate“) durchsetzen, die in Deutschland derzeit nur auf freiwillige Veranlassung des Vorstands möglich ist. Hier hatte vor wenigen Wochen die Alzchem Group AG einen ersten Praxistest angestoßen und ein entsprechendes Votum auf die Tagesordnung gesetzt, dem von Aktionärsseite aber teilweise mit Skepsis begegnet wurde.
Fokussierung angeraten
Zusammen mit „Dauerthemen“ wie der Aufsichtsratsbesetzung (insbesondere: Unabhängigkeit der Mitglieder; „Overboarding“) und der Organvergütung zeigt all dies, dass die Durchführung von Hauptversammlungen auch in der Saison 2023 nicht weniger komplex geworden ist.
Damit das im internationalen Vergleich ohnehin schon zeitlich überbordende Format nicht noch weiter ausartet, bedarf es einer stärkeren Fokussierung auf das Wesentliche und einer strafferen Organisation der Debatten. Angesichts der damit verbundenen Rechtsrisiken ist hier aber der Gesetzgeber aufgerufen, den Weg für eine rechtssichere Durchführung effizienter Versammlungen zu ebnen.