GastbeitragEU-Produkthaftungsrichtlinie

Paradigmenwechsel für mehr Verbraucherschutz

Die Umsetzung der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie steht bevor. Die Haftungsrisiken für Unternehmen nehmen spürbar zu.

Paradigmenwechsel für mehr Verbraucherschutz

Paradigmenwechsel für mehr Verbraucherschutz

Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie erhöht das Haftungsrisiko − Software-Hersteller erstmals Adressaten von Ansprüchen

Von Rupert Bellinghausen
und Anke Krause *)

Nachdem bereits Anfang des Jahres der Text der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht wurde, steht diese nun kurz davor in Kraft zu treten. Damit wird absehbar, dass das aktuelle Produkthaftungsregime fast 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung einen Paradigmenwechsel erfahren wird. Nach Inkrafttreten der Produkthaftungsrichtlinie werden die Mitgliedsstaaten die neuen Regeln innerhalb von zwei Jahren, das heißt bis voraussichtlich Ende 2026 umsetzen müssen.

Mit der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie nimmt der Europäische Gesetzgeber zum einen eine Modernisierung des Produkthaftungsrechts vor, die technologischen Veränderungen Rechnung trägt und erstmals Software (und deren Hersteller) zu Adressaten von Produkthaftungsansprüchen machen wird. Er führt zum anderen einen Katalog an widerlegbaren Vermutungen ein, die zu einer faktischen Beweislastumkehr führen. Damit steigt das Haftungsrisiko erheblich.

Ohne vertragliche Beziehung

Die größten Veränderungen im Rahmen des Anwendungsbereichs betreffen die Aufnahme von Software und digitalen Entwicklungsdateien bzw. -unterlagen in die Definition des Produktbegriffs. Bisher konnten Software-Hersteller aus Produkthaftungsrecht weder von Verbrauchern noch von Herstellern in Anspruch genommen werden, die die betroffene Software in ihre Produkte integrieren. In Zukunft gilt eine Ausnahme nur für Open-Source-Software, die nicht im Rahmen einer kommerziellen Tätigkeit entwickelt und angeboten wird.

Das bedeutet, dass für die Inanspruchnahme eines Softwareherstellers keine vertragliche Beziehung zum Anspruchsteller mehr erforderlich ist und die Haftung gegenüber dem Nutzer des Produkts nicht durch vertragliche Vereinbarungen beschränkt werden kann. Für die Praxis bedeutet dies, dass das Produkthaftungsregime auf eine ganze Branche ausgeweitet wird, die bislang nicht in dessen Anwendungsbereich fiel.

Lückenlose Erfassung

Neu im Kreis der Haftungsadressaten sind auch die Fulfillment-Dienstleister, Vertreiber sowie Online-Plattformen. Diese sollen in Fällen in Anspruch genommen werden können, in denen der Hersteller und dessen Importeur oder Bevollmächtigter ihren Sitz außerhalb der EU haben. Praktisch dürfte sich dies vor allem für das Angebot und den Vertrieb von Waren über Online-Plattformen auswirken.

Die Aufnahme dieser Wirtschaftsakteure in eine gestaffelte Haftung ist bereits in einer Reihe anderer EU-Rechtsakte umgesetzt worden. Sie zielt darauf ab, dem Verbraucher durch eine möglichst lückenlose Erfassung sämtlicher Wirtschaftsakteure entlang der Herstellungs- und Lieferkette stets einen greifbaren Haftungsadressaten zu sichern.

Ähnliche Bestrebungen werden auch in anderen Jurisdiktionen verfolgt, so gab es zum Beispiel aus den USA in jüngerer Zeit eine Reihe von Gerichtsentscheidungen, die die Betreiber von Online-Plattformen in die Verantwortung für dort vertriebene Produkte ziehen. Hierdurch haften in Zukunft auch Wirtschaftsakteure, die selbst keinen Einfluss auf die Entwicklung und Herstellung des Produkts haben. Sie müssen sich durch vertragliche Regressregelungen schadlos halten, insbesondere im Onlinevertrieb.

Auskunftsanspruch

Die neben der Ausweitung des Anwendungsbereichs größte Veränderung durch die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie betrifft die Regelungen zur gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen. Die EU-Produkthaftungsrichtlinie führt neben einem dem deutschen Produkthaftungsrecht bislang unbekannten Herausgabe- bzw. Auskunftsanspruch auch eine Reihe von Vermutungen ein, die zugunsten der Anspruchsteller greifen und im Streitfall von Herstellern und sonstigen Haftungsadressaten entkräftet werden müssen. Während ein Anspruchsteller bislang faktisch kaum Möglichkeiten hatte, zur Unterstützung seiner Ansprüche interne Dokumente aus dem Herstellungs- und Entwicklungsprozess heranzuziehen, können Hersteller nach den Regelungen der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie zukünftig verpflichtet sein, interne Dokumente wie Entwicklungsunterlagen, Produktzeichnungen und Marktbeobachtungsberichte herauszugeben.

Die Hürden für diesen Auskunftsanspruchs sind niedrig, der Anspruchsteller muss lediglich darlegen, dass ein Anspruch aus Produkthaftung plausibel ist, die Herausgabe muss zudem unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen der Parteien notwendig und angemessen sein.

Großzügige Auslegung

Es ist davon auszugehen, dass die Gerichte bei der Auslegung dieser Voraussetzungen großzügig verfahren werden, zumal schon heute für technisch komplexere Produkte niedrige Anforderungen an den Detailgrad der Darlegungen des Anspruchstellers gestellt werden. Die entsprechenden Dokumente enthalten ganz regelmäßig Geschäftsgeheimnisse, was jedoch nicht dazu führt, dass die Herausgabe verweigert werden darf. Die nationalen Gesetzgeber sollen lediglich Maßnahmen treffen, die den Schutz dieser Geschäftsgeheimnisse sicherstellen, beispielsweise durch Verschwiegenheitsverpflichtungen.

Dies stellt Unternehmen vor mehrere Herausforderungen: Insbesondere in weniger streng regulierten Branchen werden die relevanten Unterlagen nicht immer zentral in leicht abrufbarer Form zur Verfügung stehen. Die internen Prozesse müssen also so organisiert werden, dass im Fall einer Inanspruchnahme schnell auf die notwendigen Informationen zugegriffen werden kann.

Die Produkthaftungsrichtlinie geht aber noch darüber hinaus und sieht auch vor, dass der Hersteller verpflichtet werden kann, die vorhandenen Informationen in einer leicht verfügbaren und leicht verständlichen Form zur Verfügung zu stellen. Unter Umständen müssen die vorhandenen Unterlagen also zusätzlich so aufbereitet werden, dass sie laienverständlich sind. Der hiermit verbundene Aufwand, beispielsweise für Informationen zu chemischen Prozessen oder zu Softwarecodes, liegt auf der Hand. Kommt ein Hersteller seiner Offenlegungspflicht nicht nach, so wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts vermutet.

Komplexe Fälle

Weitere neu eingeführte Vermutungen betreffen Fälle, in denen entweder der eingetretene Schaden dem typischen Schaden bei Vorliegen eines Produktfehlers entspricht, oder in denen der Nachweis des Fehlers und des Kausalzusammenhangs mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Dazu gehören auch solche Fälle, die in technischer oder wissenschaftlicher Sicht komplex sind. Für Produkte, die insbesondere durch den Einsatz von Software und neuen Technologien zunehmend komplexer werden und deren Mechanismen von Laien kaum mehr nachvollziehbar sind, dürfte diese Voraussetzung zukünftig regelmäßig erfüllt sein. Greift die Vermutungsregelung, so muss der Hersteller nachweisen, dass der vermutete Fehler nicht Ursache des Schadens ist. Schon heute zeigt sich, dass aufgrund der Komplexität vieler Produkte Kausalzusammenhänge auch mit Hilfe von Sachverständigen nicht immer aufgeklärt werden können. Führte dies bislang dazu, dass der Anspruchsteller beweisfällig blieb und mit seiner Klage keinen Erfolg hatte, so tritt nach dem neuen Regime eine Umkehr der Risikoverteilung ein: Bleiben Unklarheiten oder Zweifel, so trifft dies den Hersteller, der die Vermutung nicht erfolgreich widerlegen konnte. Die Unaufklärbarkeit führt in diesen Fällen zur Haftung, was insbesondere das Gebiet der künstlichen Intelligenz betreffen könnte.

Die Uhr tickt

Nach der Umsetzung in nationales Recht wird erwartet, dass die angepassten Vorschriften in Deutschland bis Ende 2026 in Kraft treten. Unternehmen sind gut beraten, wenn sie sich schon jetzt mit den Regelungen vertraut machen und beispielsweise sicherstellen, dass erforderliche Unterlagen gesichert werden und im Haftungsfall schnell verfügbar sind. Denn in der Praxis wird es darauf ankommen, gesetzliche Vermutungen zu entkräften.

Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie betrifft alle Hersteller von Produkten, die von Verbrauchern genutzt werden, also unter anderem die Konsumgüter-, Arzneimittel- und Medizinprodukte-, Automobil- und Softwarebranche. Eine direkte Vertragsbeziehung zu den Endnutzern ist dabei nicht erforderlich. Die zukünftigen KI-Haftungsrichtlinien und die ebenfalls neu eingeführten kollektiven Rechtsschutzmechanismen werden das Bild steigender Haftungsrisiken zusätzlich schärfen. Es ist damit zu rechnen, dass der Bereich der Produkthaftung in den Fokus zukünftiger Verbandsklagen und Massenverfahren rücken wird.

*) Dr. Rupert Bellinghausen ist Partner, Anke Krause ist Counsel im Fachbereich Litigation, Arbitration & Investigations bei Linklaters in Frankfurt.

Dr. Rupert Bellinghausen ist Partner, Anke Krause ist Counsel im Fachbereich Litigation, Arbitration & Investigations bei Linklaters in Frankfurt.