GastbeitragVerbraucherschutz

Tauziehen um Sammelklagen vorerst beendet

Der Bundestag hat die neue Abhilfeklage beschlossen und stärkt damit die kollektive Rechtsdurchsetzung von Verbrauchern. Das hat Auswirkungen auf Unternehmen.

Tauziehen um Sammelklagen vorerst beendet

Tauziehen um Sammelklagen vorerst beendet

Bundestag beschließt neue Abhilfeklage und stärkt die kollektive Rechtsdurchsetzung von Verbrauchern

Von Stefan Patzer und Christian Steger*)

Kurz vor der Sommerpause hat der Bundestag das Gesetz zur Umsetzung der EU-Verbandsklage beschlossen. Vor dem Inkrafttreten des „Verbandsklagerichtlinienumsetzungsgesetzes“ (VRUG) wird im September noch der Bundesrat angehört, dies ist aber mangels Zustimmungserfordernis eine Formalie. Ab Herbst 2023 haben Verbraucher und kleine Unternehmen damit eine neue Möglichkeit, ihre Ansprüche kollektiv im Wege einer Verbandsklage durchzusetzen. Doch was genau kommt auf diese und die potenzial beklagten Unternehmen zu?

Dynamische Entwicklung

Zunächst lohnt sich ein Blick zurück. Ob Diesel, Datenschutz oder Verbraucherdarlehen: Kollektiver Rechtsschutz steht seit Jahren im Zentrum der rechtspolitischen Aufmerksamkeit, die spätestens mit dem Abgasskandal und der im Jahr 2018 eingeführten Musterfeststellungsklage einen ersten Höhepunkt erreichte. Mit der Musterfeststellungsklage können Verbraucherverbände anspruchsrelevante Umstände im Namen zahlreicher Verbraucher feststellen lassen.

Verbraucher sollten ihre Rechte so effektiver durchsetzen können, Individualklagen sollten entbehrlich werden. Nach fünf Jahren lässt sich allerdings festhalten, dass die Musterfeststellungsklage die Erwartungen bislang verfehlt hat. Noch immer prägen Massenverfahren mit hunderten oder gar tausenden Einzelklagen den Justizalltag, auch jenseits der „Diesel-Klagen“. Neue und bessere Legal-Tech-Anwendungen und die Präsenz von Prozessfinanzierern verstärken diesen Trend.

Parallel dazu setzte die EU im Jahr 2020 als Teil ihres „New Deal for Consumers“ wegweisende Impulse für den kollektiven Rechtsschutz in Europa und verpflichtete alle Mitgliedstaaten, bis Mitte 2023 eine Verbandsklage einzuführen, die es qualifizierten Einrichtungen ermöglicht, unmittelbar auf Entschädigung der Verbraucher zu klagen. Genau das ist die zentrale Schwachstelle der Musterfeststellungsklage: Verbraucher sind unter Umständen gezwungen, im Nachgang noch individuelle Zahlungsklagen anzustrengen. Wenig überraschend ist es daher das Hauptanliegen der zur Umsetzung der europäischen Vorgaben konzipierten neue Abhilfeklage, diese Schwachstelle zu beseitigen.

Uneinigkeit in der Koalition

Im Detail hat das VRUG allerdings zu deutlichen Spannungen innerhalb der Koalition geführt. Obwohl die Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie bis Ende 2022 hätte erfolgen müssen, hat die Bundesregierung erst im März 2023 einen ersten Gesetzentwurf vorgestellt. Zuvor war es in der Ressortabstimmung zwischen dem Justizministerium (FDP) und dem Verbraucherschutzministerium (Grüne) zu diversen Meinungsverschiedenheiten gekommen, die sich auch noch durch das parlamentarische Verfahren gezogen und nunmehr zu einer Kompromisslösung geführt haben.

Im Zentrum des Streits stand dabei die Frage, bis wann sich Verbraucher einer Abhilfeklage anschließen können. Die Abhilfeklage folgt dem sogenannten „Opt-in“-Prinzip. Das bedeutet, dass sich Verbraucher der Verbandsklage aktiv anschließen müssen, um davon zu profitieren.

Während der erste Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums ein Opt-in spätestens bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung vorsah, erlaubte der Regierungsentwurf einen Beitritt bis zwei Monate nach dem ersten Termin. Die Verbraucherschutzverbände forderten sogar eine Beitrittsmöglichkeit bis nach dem Erlass des Urteils. Die vom Bundestag nach hartem Ringen beschlossene Fassung lässt nunmehr einen Beitritt bis zu drei Wochen nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu.

Auswirkungen auf Klagelandschaft

Einzubetten ist die Debatte um das VRUG in das Bestreben, die deutsche Justiz allgemein von Massenklagen zu entlasten, die in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Trotz insgesamt deutlich rückläufiger Klagezahlen haben die Zivilgerichte zuletzt immer dringender davor gewarnt, durch die besondere Belastung der Massenverfahren und den technologischen Rückstand gegenüber spezialisierten Anwaltskanzleien an ihre Grenzen zu stoßen.

Deswegen hatte das Justizministerium unabhängig von der Abhilfeklage im Juni 2023 einen Entwurf für ein „Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof“ vorgestellt, um es dem Bundesgerichtshof auch in Massenverfahren zu ermöglichen, frühzeitig zentrale Fragen zu klären. Verfahren mit über den konkreten Fall hinausgehender Bedeutung soll der Bundesgerichtshof künftig als „Leitentscheidungsverfahren“ bestimmen und die betreffenden Rechtsfragen klären können. Das soll auch in der praxisrelevanten Konstellation gelten, dass sich die Parteien vorzeitig auf einen Vergleich geeinigt haben, und im Ergebnis zu einer „geringfügigen Entlastung“ der Zivilgerichte führen.

Bei der neuen Abhilfeklage ist ebenso zweifelhaft, ob tatsächlich Abhilfe naht. Vereinzelt geäußerte Befürchtungen, Sammelklagen würden sich künftig „wie Stechmücken vermehren“, gehören zwar ins Reich der Fabeln, aber auch der Gesetzgeber selbst rechnet lediglich mit durchschnittlich 15 Abhilfeklagen und 10 Musterfeststellungsklagen im Jahr. Die Erwartung ist, die Justiz damit jährlich um gut 20.000 Individualverfahren zu entlasten. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechnung aufgeht.

Entlastung zweifelhaft

Erste Reaktionen aus der Praxis zeigen sich zurückhaltend, ob die Abhilfeklage tatsächlich zu einer Entlastung der Gerichte führen wird. In der Tat bedingt der gesetzliche Mechanismus der Abhilfeklage, der für eine große Vielzahl von Betroffenen funktionieren muss, dass vor allem für rechtsschutzversicherte Kläger eine Einzelklage häufig die attraktivere und schnellere Möglichkeit bleiben wird, um an ihr Recht zu kommen. Auch für die Klägerkanzleien ist es in aller Regel finanziell lukrativer, zahlreiche Einzelverfahren zu führen.

Immense Auswirkungen dürfte dabei eine Änderung haben, die auf der Zielgeraden in das Gesetz eingefügt wurde. Danach soll für Verbraucherverbände die Kooperation mit einem Prozessfinanzierer grundsätzlich möglich sein, allerdings müssen sie die Kooperationsvereinbarung zwingend bei Gericht offenlegen und der Finanzierer soll nicht mehr als 10% der zugesprochenen Schadenssumme erhalten dürfen.

Ausblick für Unternehmen

Das liegt deutlich unterhalb der ansonsten üblichen Sätze und schränkt die Attraktivität der Verbandsklagen für Prozessfinanzierer erheblich ein, zumal sie sich die Erfolgsbeteiligung einzeln von den betroffenen Verbrauchern wiederholen müssten.

Die Verbraucherverbände werden es daher schwer haben, Finanzierer von einer Kooperation zu überzeugen, und werden sehr wahrscheinlich mit den begrenzten finanziellen Ressourcen auskommen müssen, die ihnen zur Verfügung stehen.

Trotzdem werden sich Unternehmen nicht entspannt zurücklehnen können. Auch wenn Massenverfahren vermutlich weiterhin den Alltag bestimmen, ist das Risiko einer Abhilfeklage nicht zu unterschätzen. Anders als ihre Vorgängerinnen kann sie finanziell viel bedrohlichere Ausmaße für Unternehmen annehmen, wenn beispielsweise auf einen Schlag zehntausende Klägerinnen und Kläger Schadenersatz fordern.

Hinzu kommt, dass Verbandsklagen auch grenzüberschreitend möglich sind. Qualifizierte Einrichtungen aus anderen Mitgliedstaaten sind berechtigt, in Deutschland Verbandsklagen zu erheben. So ist denkbar, dass ein französischer Verbraucherverband die Rechte französischer, spanischer und italienischer Verbraucher vor deutschen Gerichten durchsetzt.

Forum Shopping

Ebenso ist es möglich, dass ein deutscher Verbraucherverband „Forum Shopping“ betreibt und an dem aus seiner Sicht günstigsten Gerichtsstand im EU-Ausland klagt. Prädestiniert könnten dafür jene Mitgliedstaaten sein, die – wie die Niederlande – dem „Opt-out“-Prinzip folgen: Denn jede „Opt-out“-Verbandsklage macht automatisch die Rechte einer signifikanten Zahl von Verbrauchern geltend – was den Klagebetrag und das Risiko beträchtlich in die Höhe treibt.

Ganzheitliche Strategie

Aus Unternehmenssicht wird es daher wichtiger denn je, eine ganzheitliche Strategie für ihr Konfliktmanagement zu erarbeiten, potenzielle Massenverfahren frühzeitig zu identifizieren und mit strategischer Weitsicht die richtigen Maßnahmen zu treffen, um das Risiko zu minimieren.

*) Stefan Patzer ist Counsel und Dr. Christian Steger Associate im Hamburger Büro von Latham & Watkins.

Stefan Patzer ist Counsel und Dr. Christian Steger Associate im Hamburger Büro der Kanzlei Latham & Watkins.

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