Unternehmen müssen sich auf Verfahrenswelle einstellen
Herr Heinzke, Herr Sturm, die EU hat für Verbraucher die Möglichkeit geschaffen, mithilfe einer Sammelklage Schadenersatz einzufordern. Wie sehen die Regelungen aus?
Heinzke: Verbraucher können klagen, wenn Unternehmen gegen Verbraucherschutzvorschriften verstoßen. Verstöße in den Bereichen Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Energie und Telekommunikation können ebenfalls geahndet werden. Die Klage kann nur von qualifizierten Einrichtungen erhoben werden. In Deutschland werden dies zunächst die etablierten Verbraucherverbände sein. Wird Schadenersatz erstritten, fließt er an die Verbraucher, die sich der Klage angeschlossen haben. Bevor Verbraucher von den neuen Rechten Gebrauch machen können, muss die EU-Richtlinie noch in nationales Recht umgesetzt werden. Hierfür haben die Mitgliedstaaten Zeit bis zum 25. Dezember 2022.
Müssen Unternehmen sich auf eine Welle von Verfahren einstellen?
Sturm: Damit muss gerechnet werden. Die Klagen können zwar nur von qualifizierten Einrichtungen erhoben werden – in eine Sammelklage können und werden aber auch gewerbliche Interessen einfließen. Die EU-Länder können eine Drittfinanzierung von Sammelklagen zulassen. Da die Sammelklage auf Zahlung gerichtet ist und zu immensen Streitwerten führen kann, ist sie für gewerbliche Prozessfinanzierer interessant. Im Zusammenspiel mit Legal Tech, automatisierten Prozessen, der Möglichkeit, Unternehmen zur Offenlegung von Beweismitteln zu verpflichten, und dem Forum Shopping kann die Sammelklage zu Geschäftsmodellen inspirieren, die für andere Unternehmen existenzbedrohend sein können. Die Möglichkeit, den „Lästigkeitswert“ eines Prozesses abzukaufen, dürfte neu definiert werden.
Wie können Unternehmen Sammelklagen vermeiden?
Heinzke: Sammelklagen eignen sich bei massenhaften Schadensereignissen. Wenn bei vielen Personen durch einen Rechtsverstoß viele kleine Schäden entstehen, kann dies zu einem Paradoxon führen: Obwohl der Gesamtschaden groß ist, bleibt das Risiko für den Schädiger überschaubar. Bei solchen Streuschäden ist es für die geschädigten Verbraucher individuell rational, von einer Rechtsverfolgung abzusehen, da Aufwand und möglicher Ertrag nicht im Verhältnis stehen. Für Unternehmen mögen „kleine“ Rechtsverstöße bei einer reinen Kosten-Nutzen-Analyse dann sogar attraktiv erscheinen. Durch die Einführung der Sammelklage wird dem entgegengewirkt. Um Risiken zu minimieren, sollten Unternehmen dem Thema Compliance auch und gerade bei kleinen Rechtsverstößen zukünftig ein höheres Gewicht geben.
Wie sollten Firmen bei einer Sammelklage reagieren?
Sturm: Sie sollten sich vor allem auch mit der klagenden „qualifizierten Einrichtung“ befassen. Prüfen, wer dahintersteht, wie diese finanziert wird, Interessenkonflikte zwischen Unterstützern der qualifizierten Stelle und Verbrauchern identifizieren; insbesondere um eine etwaig missbräuchliche Nutzung zu erkennen und die Zulässigkeit der Klage zu hinterfragen.
Wie wird Missbrauch verhindert?
Heinzke: Klagebefugte Einrichtungen müssen einen Track Record vorweisen und schon zwölf Monate zum Schutz von Verbraucherinteressen tätig gewesen sein. Außerdem sieht die Richtlinie Anforderungen für Prozessfinanzierer vor und legt fest, dass die unterlegene Partei die Prozesskosten tragen muss. Hierdurch soll verhindert werden, dass die Klage zur Gewinnerzielung durch professionelle Kläger missbraucht wird.
In einigen EU-Ländern können bereits Sammelklagen angestrengt werden. Müssen diese Staaten ihre Gesetze jetzt ändern?
Sturm: Die Richtlinie statuiert einen Mindeststandard für Sammelklagen, der in jedem EU-Land umgesetzt werden muss. Den Ländern steht aber frei, neben der EU-Sammelklage weitere kollektive Rechtsschutzformen beizubehalten oder einzuführen. Insoweit werden die Länder das Verhältnis der Sammelklage zu bereits vorhandenen kollektiven Rechtsschutzformen regeln müssen. Denkbar wären Wahlrechte bei einem Nebeneinander von Verfahren oder eine Novellierung bestehender Verfahren.
Philippe Heinzke und Dr. Karsten Sturm sind Rechtsanwälte der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland.
Die Fragen stellte Helmut Kipp.