Recht und Kapitalmarkt

Ad-hoc-Pflichten unter der Lupe - der Fall Schrempp

Widersprüchliche Urteile sorgen für Rechtsunsicherheit bei der Frage von Publizitätsanforderungen

Ad-hoc-Pflichten unter der Lupe - der Fall Schrempp

Von Patrick Oliver Nordhues *)Zur Frage, wann Umstände, deren Umsetzung von einer noch ausstehenden Gremienentscheidung abhängen, eine Ad-hoc-Pflicht auslösen, sind kürzlich zwei obergerichtliche Entscheidungen ergangen. Hintergrund beider Entscheidungen war das Ausscheiden von Jürgen Schrempp als Vorstandsvorsitzender der damaligen DaimerChrysler AG.Nach der Hauptversammlung der Gesellschaft im April 2005 trug sich der damalige bis Ende 2008 bestellte Vorstandsvorsitzende Schrempp mit dem Gedanken, vorzeitig aus diesem Amt zu scheiden. Dies erörterte er im Mai 2005 mit dem damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Hilmar Kopper. Am 27. Juli 2005 beschloss der Präsidialausschuss des Aufsichtsrats, dem Gesamtaufsichtsrat die Beschlussfassung über die Zustimmung zum einvernehmlichen Ausscheiden von Schrempp vorzuschlagen. Der Aufsichtsrat beschloss daraufhin in seiner Sitzung vom 28. Juli 2005, dass Schrempp zum 31. Dezember 2005 aus dem Amt des Vorstandsvorsitzenden ausscheiden und Dieter Zetsche sein Nachfolger werden solle. Hierüber informierte die Gesellschaft die Geschäftsführungen der Börsen und die BaFin. Der Kurs der Daimler-Aktie stieg am selben Tag um 10 %. MusterverfahrenEine Vielzahl von Anlegern, die in den Monaten zuvor Aktien der DaimlerChrysler AG zu teils erheblich niedrigeren Kursen verkauft hatten, erhoben daraufhin wegen entgangener Kursgewinne Schadenersatzklagen gegen die Gesellschaft beim Landgericht Stuttgart und in einem Fall auch beim Amtsgericht Stuttgart. Als Begründung führten sie an, die Information über das bevorstehende Ausscheiden Schrempps hätte als sogenannte Insiderinformation nach den einschlägigen Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) erheblich früher veröffentlicht werden müssen.Das WpHG sieht vor, dass ein Emittent von Wertpapieren Informationen über kursrelevante Umstände, die nicht öffentlich bekannt sind (sogenannte Insiderinformationen nach 13 Abs. 1 WpHG), im Grundsatz unverzüglich veröffentlichen muss ( 15 Abs. 1). Der Emittent darf die Veröffentlichung ausnahmsweise aufschieben (Selbstbefreiung), wenn er ein berechtigtes Interesse daran hat, wenn die Öffentlichkeit, also der Kapitalmarkt, nicht irregeführt wird und wenn er gewährleisten kann, dass die Insiderinformation bis zur Veröffentlichung vertraulich bleibt ( 15 Abs. 3 WpHG).Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat zu den Schadenersatzklagen in einem sogenannten Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) durch Musterentscheid vom 22. April 2009 (20 Kap 1/08) festgestellt, dass eine Insiderinformation mit Beschlussfassung des Präsidialausschusses am 27. Juli 2005 vorlag, da eine entsprechende Beschlussfassung durch den Gesamtaufsichtsrat am Folgetag vorabgestimmt und damit hinreichend wahrscheinlich im Sinne des WpHG sei.Das OLG Stuttgart verneinte aber letztlich trotz der grundsätzlich verspäteten Veröffentlichung eine Schadenersatzpflicht, da die Voraussetzungen des 15 Abs. 3 WpHG für eine Selbstbefreiung von der Veröffentlichungspflicht bezüglich dieser Insiderinformation bis zum Morgen des folgenden Tags vorgelegen hätten. Ein berechtigtes Interesse an einem solchen Aufschub sei gegeben, da die Insiderinformation eine Entscheidung des Unternehmens betreffe, der der Aufsichtsrat noch zustimmen müsse oder für die dieser nach Aktienrecht allein zuständig sei. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des OLG, dass die Selbstbefreiung bereits kraft Gesetzes, d. h. ohne formale Entscheidung des Emittenten eintreten solle. Dies war bislang umstritten und entspricht nicht der Verwaltungspraxis der BaFin.Einen gegenläufigen Beschluss zu der Frage des Vorliegens einer publizitätspflichtigen Insiderinformation hatte zuvor das OLG Frankfurt am Main in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen die damalige DaimlerChrysler AG erlassen. Die BaFin hatte gegen diese wegen leichtfertigen Verstoßes gegen die Veröffentlichungspflicht von Insiderinformationen eine Geldbuße von 200 000 Euro festgesetzt. Nach Ansicht der BaFin hatte die Gesellschaft das Ausscheiden Schrempps zu spät veröffentlicht. Diesen Bußgeldbescheid hatte zunächst das Amtsgericht Frankfurt unter Hinweis auf die “ungeklärte Rechtslage” und einen daraus folgenden unvermeidbaren Verbotsirrtum aufgehoben. Mit Beschluss vom 12. Februar 2009 (2 Ss-OWi 514/08) hob das OLG Frankfurt diesen Freispruch auf. Mittlerweile hat die Gesellschaft ihren Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der BaFin zurückgezogen.Nach Ansicht des OLG Frankfurt beginnt die Publizitätspflicht bereits dann, wenn der Bereich interner Willensbildung (Wunsch, das Amt niederzulegen) sich zu einer konkreten Tatsache verdichtet hat und das Ergebnis dieses Willensbildungsprozesses gegenüber einem Entscheidungsträger des Unternehmens als konkrete Tatsache objektiv nach außen zutage tritt. Unter Berufung auf die Gesetzesbegründung zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz hält das OLG Frankfurt am Main auch Umstände aus dem Vorfeld einer Entscheidung, wie zum Beispiel Pläne, Vorhaben und Absichten einer Person, für publizitätspflichtig. Insofern komme es im vorliegenden Fall auf die Aufsichtsratsentscheidung nicht an. Dies betreffe lediglich die Frage, wie der Aufsichtsrat mit der beabsichtigten Amtsniederlegung unternehmerisch und rechtlich umgehe. Diese Entscheidung könne aber eine neue publizitätspflichtige Tatsache darstellen. Schließlich weist das OLG Frankfurt am Main darauf hin, dass dem unternehmerischen Interesse an einer möglichst langen Geheimhaltung durch die Möglichkeit der Selbstbefreiung nach 15 Abs. 3 WpHG Rechnung getragen werden könne. Folgen für die PraxisDie Praxis wird sich darauf einzustellen haben, dass die BaFin mit Rückendeckung des OLG Frankfurt an ihrer bisherigen Verwaltungspraxis festhalten und eine Ad-hoc-Publizitätspflicht im Rahmen eines mehrstufigen Entscheidungsprozesses wie in dem vorliegenden Fall nicht erst mit der endgültigen Entscheidung des Aufsichtsrats annehmen wird (vgl. Ziffer IV.2.2.7 des neugefassten Emittentenleitfadens der BaFin – Stand 28. April 2009).Erhöhte Aufmerksamkeit kommt damit der Möglichkeit der Selbstbefreiung zu. Die BaFin bestätigt in dem neu gefassten Emittentenleitfaden, dass bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen der Aufschub der Veröffentlichung der Insiderinformation in der Regel aufsichtsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Allerdings bedarf eine solche Selbstbefreiung laut Emittentenleitfaden eines Beschlusses des geschäftsführenden Organs des Emittenten (vgl. hierzu Ziffer IV.3 des Emittentenleitfadens).Die theoretische Möglichkeit der Befreiung reicht damit gerade nicht aus. Emittenten sollten daher nicht auf die vom OLG Stuttgart für möglich gehaltene Selbstbefreiung kraft Gesetzes vertrauen. Insbesondere ist ein Emittent nach 8 Abs. 5 Wertpapierhandelsanzeige- und Insiderverzeichnisverordnung (WpAIV) verpflichtet, der BaFin unter anderem die Gründe für die Befreiung und den Zeitpunkt der Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung mitzuteilen. Dokumentation angeratenDer Emittent ist daher gehalten, den Prozess der Selbstbefreiung ausreichend zu dokumentieren. Ferner muss der Emittent bis zur Vornahme der Ad-hoc-Mitteilung in regelmäßigen Abständen prüfen, ob die Voraussetzungen einer Selbstbefreiung weiterhin vorliegen. Während des Befreiungszeitraums dürfen zudem keine Signale gesetzt werden, die zu der noch nicht veröffentlichten Insiderinformation im Widerspruch stehen. Eine “no comment policy” ist jedoch laut Emittentenleitfaden nicht irreführend.—-*) Dr. Patrick Oliver Nordhues ist Rechtsanwalt bei McDermott Will & Emery LLP in Düsseldorf.