RECHT UND KAPITALMARKT

Aus Trümmern sollen Blumen wachsen

Das Ende der Inter Bank Offered Rates - Was ist mit den Altverträgen und wie geht es weiter mit den neuen?

Aus Trümmern sollen Blumen wachsen

Von Rüdiger Litten *)Am Anfang war der Skandal: Von 2001 bis 2010 hatten einige bedeutende Finanzakteure wichtige Referenzzinssätze manipuliert, um daraus wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen. Referenzzinssätze sind diejenigen Sätze, zu denen sich Banken untereinander Geld leihen, die Inter Bank Offered Rates (Ibors). Wichtigste europäische Ibors sind der in der Eurozone für die Währung Euro festgelegte Euribor und der in London für unterschiedliche Währungen bestimmte Libor.Die EU sah sich genötigt zu reagieren und setzte mit der Benchmark-Verordnung (VO 2016/1011-BMVO) im Juni 2016 ein gesetzgeberisches Ausrufungszeichen. Die BMVO soll Referenzzinssätze weniger manipulationsanfällig machen. Wichtig insbesondere: Die Eingabedaten, auf deren Basis ein Ibor berechnet wird, sollen keine Schätzungen mehr sein, sondern ausgewertete Transaktionsdaten. Zwar gilt die BMVO für alle europäischen Ibors, doch ihre Schicksale trennen sich: Brüssel reformierte den Euribor und lässt ihn nun vom European Money Markets Institute (EMMI) nach einer BMVO-konformen hybriden Methode berechnen. London kündigte an, den Libor bis 2021 komplett abzuschaffen (auch wenn es Gerüchte gibt, dass weiterhin ein von der letzten veröffentlichten Rate abgeleiteter Zombie-Libor existieren werde).Der Libor soll durch Risikofreie Referenzzinssätze (Risk Free Rates – RFRs) ersetzt werden. Genauer gesagt handelt es sich nicht um den Libor, sondern um mehrere. Libors werden berechnet für unterschiedliche Währungen (GBP, USD etc.) und Laufzeiten (3, 6, 12 Monate etc.). Ähnliche Laufzeiten gelten für den Euribor. Ibors werden ermittelt auf Grundlage von Angaben von Marktteilnehmern zur Höhe des Zinses, von dem diese glauben, dass er die Basis für ihren Kredit (unbesichert für eine bestimmte Währung und Laufzeit) im Interbankenmarkt darstellt. Ibors dienen als Grundlage für variabel verzinsliche Darlehen und Finanzinstrumente und vieles mehr. Ein RFR ist die Rendite eines hypothetischen, ausfallrisikofreien Investments. Er basiert auf historischen Tagesgeldsätzen (Overnight Lending Rates), zu denen sich Banken Kurzfristkredit geben. Es gibt solche RFRs mittlerweile für alle bedeutenden Währungen: Sonia (GBP), Sofr (Dollar), Estr (Euro) etc. RFRs gelten als deutlich weniger manipulationsanfällig als Ibors. Favorit der MarktteilnehmerAllerdings können RFRs Ibors nicht ohne weiteres ersetzen. Als historische Tagesgeldsätze haben sie weder die für Ibor-Referenzzinssätze üblichen unterschiedlichen Laufzeiten, noch bilden sie zukunftsgewandte Risiken ab. Bei RFRs wissen die Parteien eines Finanzgeschäfts also nicht im Voraus, wie hoch der Zins ist, den sie erhalten bzw. bezahlen werden. Um RFRs nutzbar im Kredit-, Derivate- oder Anleihemarkt zu machen, müssen sie deshalb zu laufzeitbasierten, risikogewichteten Referenzzinssätzen (Term-RFRs) weiterentwickelt werden.Einen gewissen Favoritenstatus unter den Marktteilnehmern (zumindest im Derivatebereich) nimmt dabei die “Compounded in arrears”-Methode ein, bei der rückblickend ein Durchschnittszinssatz über eine bestimmte Laufzeit ermittelt wird (was dann allerdings auch bedeutet, dass der Zinssatz erst kurz vor oder am Fälligkeitstag feststeht).In der Übergangszeit von Ibor zu RFR muss sich der Praktiker mit Altverträgen auseinandersetzen, also solchen Verträgen, deren Zinsklausel schlicht auf einen Ibor abstellt und die erst nach dem Referenzzinssatzwechsel enden, und mit Verträgen, die jetzt abgeschlossen werden sollen, zu einem Zeitpunkt also, wo noch nicht feststeht, was in Zukunft gelten wird. Dabei stellen sich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung folgende Fragen: Welche RFR soll an die Stelle des Ibor treten? Das heißt welche Auswahlmethode soll angewandt werden, wenn ein spezieller RFR noch nicht feststeht? Wann genau beziehungsweise ausgelöst durch welches Ereignis soll der Ibor ersetzt werden? Warten bis zur Einstellung des Ibor mag nachteilhaft sein, so dass sich die Frage nach dem pre-cessation trigger stellt. Wie sollen die wirtschaftlichen Nachteile, die einer Partei (möglicherweise) aus der Ersetzung entstehen, ausgeglichen werden? RFRs als historische Zinssätze werden in aller Regel niedriger als ihre (zukunftsorientierten) Ibor-Counterparts sein, was ein spread adjustment erfordern mag. Wie ist bei komplexen, mehrschichtigen Transaktionen (zum Beispiel ABS) und generell beim hedging vorzugehen? Zusammenhänge müssen beachtet werden, sonst geht es schief!Die Antworten auf diese Fragen werden von Behörden, Marktteilnehmern und ihren Organisationen diskutiert. Dabei lassen sich Unterschiede zwischen Finanzmärkten (Kredit-, Derivate- und Kapitalmärkte) und zwischen Ländern ausmachen.Innerhalb Europas liegen die Briten mit ihren Anstrengungen, Lösungen für die Umstellung zu entwickeln, klar vorne. So hat die Bank of England (BoE) die RFR-Problematik zügig an sich gezogen und eine Working Group eingesetzt, die in verschiedenen Unterausschüssen zum Thema Libor to RFR Transition für Kredite, Derivate und Anleihen praktische Leitlinien entwickelt. Eingebunden in diese Arbeitsgruppen sind die Marktteilnehmer, zum Beispiel die Kreditgeber (LMA – Loan Market Association) und die Kreditnehmer (ACT – Association of Corporate Treasurers). Auch die englische Finanzaufsichtsbehörde FCA befürwortet die Entwicklung von Term-RFRs. Organisationen wie die LMA (für Kredite) oder die ISDA (für Derivate) haben Mustervertragsklauseln veröffentlicht, die Probleme lösen helfen sollen. Zudem hat zum Beispiel ISDA eine Vereinbarung mit Bloomberg getroffen, wonach das Daten-Unternehmen Term-RFRs für Sonia und Sofr nach der Compounded-in-arrears-Methode berechnen und veröffentlichen soll. Verhaltene ReaktionDie deutsche Reaktion auf die angekündigten Ibor-Änderungen ist eher verhalten. Die Deutsche Kreditwirtschaft (der Dachverband der deutschen Bankverbände) gibt keine Empfehlungen zum Umgang mit den Änderungen ab. Angesichts des Fortbestands des Euribor und des vergleichsweise kleinen Volumens sterlingbasierter Finanzierungen in Kontinentaleuropa mag das vertretbar sein. Möglicherweise besteht auch die Hoffnung, der Gesetzgeber werde wie 1998 beim Übergang von Fibor zu Euribor eine die offenen Fragen regelnde Verordnung erlassen. Allerdings benutzen auch kontinentaleuropäische Akteure Libors. Ungewiss ist zudem, ob sich die neue hybride Euribor-Berechnungsmethode bewähren oder es nicht sogar zu einem ähnlich radikalen Bruch wie beim Libor kommen wird (auch in UK wurde zunächst gehofft, den Libor reformieren und als “Libor+” überleben lassen zu können). Vorgesorgt wurde dafür zumindest insofern, als der gegenwärtig von EMMI erstellte, seinerseits methodisch kritisierte Tagesgeldzinssatz Eonia durch den von der EZB berechneten Estr schrittweise ersetzt werden soll (wobei der Eonia für eine geraume Zeit als “Estr + 8,5 Basispunkte” berechnet wird – womit zumindest das Problem des spread adjustment geklärt ist). Zudem könnte man jedenfalls bei den Altverträgen die Frage aufwerfen, ob diese nach Übergang von Euribor alt auf Euribor neu einfach so weiterlaufen können, schließlich hat sich die Berechnung des Euribor stark verändert mit möglicherweise negativen Folgen für die eine oder andere Seite. Handeln oder nicht?Bleibt die Frage, ob man als Marktteilnehmer in dieser Situation etwas tun sollte. In England machen zum Beispiel die Kreditnehmer deutlich, was sie nicht wollen, dass nämlich die Umstellung von Ibor zu RFR mit höheren Kreditkosten einhergeht. Um das zu verhindern, ist aus ihrer Sicht sowohl eine Beteiligung an den BoE Working Groups angezeigt als auch eine Beschäftigung mit den Detailfragen, die sich für Kredite, Derivate und Anleihen stellen.Auch in Deutschland sind die Verbände sicherlich das geeignete Forum, um auf regulatorische und vertragliche Lösungen Einfluss zu nehmen. Marktteilnehmer, die Altverträge im Portfolio haben, sind besonders betroffen. Hier wird kaum ein Weg daran vorbeiführen zu prüfen, ob Lösungen für die obenstehenden Fragen in den rechtlichen Dokumenten angelegt sind, und daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen. Dafür zu sorgen, dass aus den Trümmern der Ibors Blumen wachsen, ist deshalb eine Aufgabe, der sich jeder Marktteilnehmer stellen sollte. *) Dr. Rüdiger Litten ist Partner von Fieldfisher in Frankfurt.