Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Marc Gottridge

Bei Sammelklagen lassen US-Gerichte das deutsche KapMuG wohl außen vor

Im schlimmsten Fall können deutsches und amerikanisches Recht kollidieren

Bei Sammelklagen lassen US-Gerichte das deutsche KapMuG wohl außen vor

– Herr Gottridge, wie bedeutend sind Sammelklagen im amerikanischen Rechtssystem? In bestimmten Rechtsgebieten sehr bedeutend, da ein einziger Fehler vielen Individuen schaden kann. Häufig stehen aber die Kosten eines Rechtsstreits außer Verhältnis zur Höhe eines einzelnen Schadenersatzanspruches. Entsprechend werden dem amerikanischen Bundesgericht jedes Jahr über 200 Sammelklagen im Wertpapierrecht vorgelegt. Ebenso werden immer häufiger Ansprüche aus Kartellrecht (Wettbewerbsrecht), Produkthaftung, Arbeitnehmerdiskriminierung und anderen Bereichen des Zivilrechts in Form von Sammelklagen prozessiert. Nur wenige Sammelklagen werden in den USA vor Gericht entschieden. Die große Mehrheit der Rechtsstreite wird entweder schon vor einer Gerichtsverhandlung von einem Richter abgewiesen, oder sie werden außergerichtlich beigelegt. Die Vergleichssumme einer Sammelklage wird von dem zuständigen Richter festgelegt. – In welchem Ausmaß können deutsche Unternehmen der “Class Action” in den Vereinigten Staaten ausgesetzt sein? Unternehmen, die in den USA tätig sind oder Produkte dort verkaufen, fallen automatisch in den Zuständigkeitsbereich der amerikanischen Gerichte, unabhängig davon, wo sich ihr Hauptsitz befindet. So kann ein deutscher Autohersteller Beklagter in einer Produkthaftungssammelklage sein, weil er angeblich defekte Fahrzeuge auf den amerikanischen Markt gebracht hat. Von besonderem Interesse sind zurzeit die Fälle, in denen deutsche Unternehmen, deren Aktien oder American Depositary Receipts an der amerikanischen Börse gehandelt werden, durch eine amerikanische Wertpapiersammelklage verklagt werden. DaimlerChrysler und die Deutsche Telekom sind hier wohl die bekanntesten Beispiele. – Kann das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) ein deutsches Unternehmen vor Class Action schützen?Das KapMuG behandelt die Festlegung eines ausschließlichen Gerichtsstands am Sitz des Emittenten für Klagen wegen Angaben in Börsenzulassungsprospekten. Der Gerichtsstand soll sicherstellen, dass in einem dezentralisierten Land wie Deutschland alle Fälle aus einem bestimmten Sachverhalt an einem Gericht bearbeitet werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das Gericht einen Musterfall auswählen kann. Außerdem will der Gesetzgeber dadurch deutsche Emittenten von ADR und Aktien vor einer drohenden amerikanischen Class Action schützen. Sollte ein deutscher Kläger trotz eines ausschließlichen Gerichtsstands in Deutschland ein Urteil in den USA erreichen, kann dieses Urteil in Deutschland nicht anerkannt werden, da die US-Gerichte aus Sicht des deutschen Rechts keine Zuständigkeit für diese Fälle haben. – Wie werden die amerikanischen Gerichte auf diese “Anti-forum- shopping”-Regelung des KapMuG reagieren?Solange Wertpapiersammelklagen im Namen von US-amerikanischen Investoren eingereicht werden, werden amerikanische Gerichte sehr wahrscheinlich weiterhin Urteile fällen, ohne die neuen Vorkehrungen des deutschen Gesetzes zu beachten. Verkauft ein deutsches Unternehmen Wertpapiere an deutsche Investoren auf dem amerikanischen Markt und informiert dabei angeblich diese Investoren falsch, dann ist das amerikanische Gericht aus Sicht des US-Rechts dafür zuständig, auch wenn der Fall in Deutschland vor Gericht gebracht werden müsste. – Wie sieht es aus, wenn nichtamerikanische Anleger involviert sind?Gegenwärtig verhandeln amerikanische Gerichte solche Fälle dann, wenn das angeblich betrügerische Verhalten maßgeblich in den USA stattfand oder wenn das Verhalten des Angeklagten im Ausland schwerwiegende Auswirkungen auf den US-Kapitalmarkt hat. Aufgrund solcher Fälle sind amerikanische Gerichte häufig beschuldigt worden, außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches zu handeln. Es ist nicht auszuschließen, dass in ähnlichen Fällen die “Anti-forum-shopping”-Regeln des KapMuG amerikanische Gerichte überzeugen können, dass Deutschland ein größeres Interesse an der Streitsache hat und sie die Zuständigkeit an das deutsche Gericht übergeben. – Das hört sich allerdings idealtypisch an . . . Wird das angebliche Fehlverhalten eindeutig in den USA begangen, oder hat es erhebliche Auswirkungen auf den amerikanischen Markt, so bezweifle ich, dass ein US-Gericht die Zuständigkeit an die deutsche Rechtsprechung übergibt. Im Worst-Case-Szenario wäre es möglich, dass deutsches und amerikanisches Recht kollidierten. Dies könnte sowohl in den USA oder in Deutschland als auch in beiden Ländern zu sog. Antisuit Injunctions führen.*) Marc Gottridge ist Partner im Bereich Dispute Resolution in der internationalen Sozietät Lovells in New York. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.