Bewährtes muss durch Neues ersetzt werden
Nordrhein-Westfalen (NRW) ist ein Schlüsselland für das Gelingen der Energiewende und damit auch für den Erfolg der Neuausrichtung des gesamten Industriestandortes Deutschland. Denn im bundesweiten Vergleich wird hierzulande mit Abstand am meisten Energie verbraucht, und die Treibhausgasbilanz liegt deutlich über dem europäischen und dem deutschen Durchschnitt. So hat die Landesregierung sich dem Klimaschutzabkommen von Paris verpflichtet und das Ziel der Treibhausgasneutralität für das Jahr 2050 fixiert.
Die Industrie muss also in der Energiebeschaffung wie -nutzung grundsätzlich neue Wege gehen und finden, um eine klimaneutrale und damit zukunftsfähige Wertschöpfung am Standort NRW zu sichern. Solch eine tiefe und fundamentale Neuausrichtung geht unweigerlich mit vielen strukturellen Disruptionen einher, die für Unternehmen und Gesellschaft herausfordernd sind. Bewährtes muss durch Neues und weniger Bekanntes ersetzt werden. Dies wird in den kommenden Jahren den Unsicherheitsgrad in der Wirtschaft spürbar anheben. Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich aus ihrer Komfortzone herausbewegen. Dafür braucht es klare Anreize und Signale. Doch was heißt dies nun konkret?
Hohe Insolvenzquote
Mit 62 Insolvenzen je 10000 Unternehmen gehörte NRW im Jahr 2021 wieder einmal zu den Spitzenreitern in der deutschlandweiten Liste von Insolvenzen. Übertroffen wird das Bundesland nur von Bremen und Berlin. Zwar scheinen sich die Insolvenzen in NRW im Jahr 2022 dem nationalen Durchschnitt genähert zu haben. Doch das Land weist schon über Jahre eine strukturell höhere Insolvenzquote auf.
Mit ihrem Industriefokus tut sich die Wirtschaft schwer, tragfähige und vor allem global wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle sicherzustellen – so oftmals der erste Eindruck nach solchen Zahlen. Anhaltend hohe Insolvenzen bringen grundsätzlich Zweifel über die Fähigkeit, den Wirtschaftsstandort NRW im Schatten von Klimazielen und Globalisierung zukunftsfähig machen zu können. Doch diese Sicht ist einseitig.
Insolvenzen sind nur dann problematisch, wenn es keine ausreichende Dynamik von neuen unternehmerischen Impulsen gibt. Denn dann wäre in der Tat ein Verlust an zukünftigem Wertschöpfungspotenzial am Standort NRW zu verzeichnen. Wichtig ist, dass beides, Schöpfung wie auch Zerstörung stattfindet, um so eine Transformation zu einer neuen zukunftsträchtigen Industriestruktur sicherzustellen. So ist die hohe Insolvenzquote ein klares Zeichen einer hohen strukturellen Veränderung in NRW. Und es ist sicherlich kein Indiz für fehlende Transformation.
So ist NRW nach Berlin und Bayern führend in der Start-up-Szene, und die Anzahl der Neugründungen ist auch im vergangenen Jahr kräftig gestiegen Auch wenn der Wertschöpfungsverlust einer Insolvenz höher ist als die anfängliche Wertschöpfung eines Start-ups, so zeigt der Vergleich dennoch eine ausgeglichenere Veränderungsdynamik. Aber: Es muss am Standort NRW noch einiges mehr passieren. Die Wertschöpfungsdynamik wird den strukturellen Herausforderungen nicht gerecht. Soll heißen: Wachstumsdynamiken und allgemeine Neugründungen bleiben trotz des hohen Anpassungsbedarfs im Ländervergleich eher Durchschnitt. Wo sollte der Fokus liegen?
Risikokapital im Blick
Die Notwendigkeit der schöpferischen Zerstörung, also die Notwendigkeit alte Technologien, Geschäftsmodelle und Investitionen abzuschreiben und durch neue zu ersetzen, nimmt in Folge von Krisen, technologischem Wandel und vor allem der Klimaziele rasant zu. So darf der Erhalt alter Geschäftsmodelle nicht vorrangig im Fokus stehen. Subventionierung mag kurzfristig Arbeitsplätze erhalten, sie schafft aber kein Wachstum, keine dynamische Veränderung und bremst oftmals die Anpassungsbereitschaft der Gesellschaft. Wichtig ist, dass ausreichend neue zukunftsträchtige Unternehmen beziehungsweise Unternehmensbereiche gegründet werden.
Hierzu ist vor allem eines notwendig: Risikokapital, also die zunehmende Bereitschaft von Unternehmern, Investoren, Banken und Finanzmärkten nicht nur Kapital im Allgemeinen, sondern dieses vor allem für risikoreiche Projekte für den Wirtschaftsstandort NRW bereitzustellen. Vor allem Banken müssen neue Wege in der Risikoeinschätzung gehen. Denn der hohe Abschreibungsbedarf wird Bonitäten belasten, während Neugründungen keine belastbaren Zahlen liefern können. Erforderlich ist eher eine vorausschauende denn rückblickende Risikobeurteilung. Dies bedarf jedoch einer gewissen unternehmerischen Risikobereitschaft. Auch kann ein Plattformvertrieb helfen, überregionales Kapital zu mobilisieren, um das erhöhte Risiko zu streuen.
Investitionen der Unternehmen in NRW sind von 2,5% des Umsatzes im Jahr 2010 auf über 3% im Jahr 2020 gestiegen. Zwar lag die Quote damit immer noch leicht unter dem Bundesdurchschnitt, allerdings verlief der Anstieg in den zurückliegenden Jahren dynamischer als in anderen Bundesländern. Sprich: NRW holt auf und Unternehmen nehmen die Herausforderung der Erneuerung zunehmend an. Diese Quote muss jedoch angesichts des bestehenden Abschreibungsbedarfs und notwendigen Wandels in der Industrie weiter spürbar gesteigert werden.
Gleichzeitig benötigt eine höhere Risikobereitschaft eine höhere Risikoprämie der Kapitalgeber. Die Kosten der Transformation werden deshalb für Unternehmen, die dafür bereit sind, hoch sein. Um Anreize zu schaffen, kann der Staat durch Finanzprodukte wie Förderkredite unterstützend eingreifen. Wünschenswert wäre auch eine teilweise Übertragung der Risiken auf den Staat. Schließlich ist der Weg zur Klimaneutralität ein gesellschaftliches Ziel. Entscheidend ist, dass hohe Kapitalkosten keine Hürde für notwendige private Investitionen und Erneuerungen der Wirtschaft sind. Mit der Klimapolitik nicht zu vereinbarende Geschäftsmodelle dürfen gleichzeitig nicht subventioniert werden, während innovative und risikoreiche Wege für Unternehmen vorangetrieben beziehungsweise durch die Subventionierung von Risikoprämien unterstützt werden müssen.
Um nicht nur die Nachteile, sondern auch Vorteile der schöpferischen Zerstörung in NRW sicherzustellen, bedarf es neben ausreichendem Risikokapital auch einem hohen Maß an Innovationsbereitschaft und vor allem Entrepreneurship. Es ist der unternehmerische Geist sowie das für die Realisierung nötige menschliche Kapital, das ausreichend vorhanden sein muss. Eine Vielzahl renommierter Hochschulen, außeruniversitärer Spitzenforschungsinstitute und Forschungsabteilungen etablierter Unternehmen tragen zu einer exzellenten Forschungskultur in NRW bei. Die Herausforderung ist, diese Innovationen am und für den Standort NRW zu nutzen.
Weniger Studienanfänger
Eine enge Verzahnung zwischen Hochschulen und Unternehmen ist deshalb ebenso wichtig, wie ein guter Zugang der Wirtschaft zu akademischen Fachkräften. Doch die Zahl der Studienanfänger in Nordrhein-Westfalen ist im Jahr 2021 erneut gesunken. NRW generiert also tendenziell immer weniger Humankapital. Doch dies geht nicht unbedingt einher mit einer Verschärfung des Fachkräftemangels. Entscheidend für den Standort NRW sind die Gewinnung und der Verbleib von Fachkräften, da diese das Potenzialwachstum bestimmen.
Ziel muss es sein, Fachkräfte nach NRW zu locken beziehungsweise sie zu halten, damit keine Auslagerung von Produktion und neuen technologischen Anwendungen stattfindet. Angesichts der hohen Mobilität von Fachkräften sind die Attraktivität und der Zugang zum Arbeitsstandort NRW entscheidender als die Anzahl der Studienanfänger im Land. NRW benötigt also eher eine fokussierte Einwanderungspolitik als ein weiteres Forschungsinstitut.
Ob qualifizierte Fachkräfte und unternehmerischer Geist oder Investitionen in die Erneuerung des Kapitalstocks: NRW muss klare Anreize schaffen, um den enormen Transformationsprozess durch nachhaltige Wertschöpfung sicherzustellen. Denn am Ende manifestiert sich der Erfolg der Wirtschaftspolitik in NRW nicht allein in der Klimaneutralität, sondern vor allem darin, dass es gelungen ist, den Wirtschaftsstandort zu erneuern und zu erhalten. Nur so ist auch in Zukunft ein hoher Lebensstandard in NRW sichergestellt.