ASSET MANAGEMENT - ALTERSVORSORGE IM VERGLEICH: GROSSBRITANNIEN - IM INTERVIEW: JULIAN LYNE, F & C INVESTMENTS

"Das britische Rentensystem ist zu komplex"

Regierung will mit Reform 7 Millionen Arbeitnehmer zur Altersvorsorge bewegen - Staat bietet nur noch Sicherheitsnetz

"Das britische Rentensystem ist zu komplex"

– Herr Lyne, Großbritannien hat angeblich eines der schlechtesten Rentensysteme innerhalb der Europäischen Union (EU). Die Chancen für einen Umschwung scheinen angesichts der zunehmenden Alterung westlicher Gesellschaften – Großbritannien ist von diesem demografischen Trend ebenfalls betroffen – nicht die besten zu sein, zumal Großbritannien den Haushalt sanieren und sparen muss.Die Herausforderungen für das Rentensystem in Großbritannien unterscheiden sich in der Tat nicht von denen anderer sogenannter entwickelter Staaten. Das Szenario ist das klassische einer alternden Gesellschaft, in der immer weniger Arbeitnehmer für Pensionäre, die immer länger leben, aufkommen müssen. Der gegenwärtige Sparkurs und die fiskalischen Herausforderungen haben ein Umfeld geschaffen, in dem es die Renten auf die erste Seite von Zeitungen schaffen und in dem Änderungen am Rentensystem Auslöser für Protestaktionen und Streiks sind. Nie zuvor haben Pensionsthemen, sei es das Niveau der staatlichen Rentenleistungen, sei es das Anspruchsdenken des öffentlichen Sektors mit seinen sogenannten vergoldeten Renten oder sei es das Wachstum des staatlich unterstützten Pensionsplans mit bestimmten Einzahlungsbeträgen, die britische Seele derart beschäftigt.- Warum? Welchen Trend beobachten Sie?Wesentlich scheint mir die Entwicklung zu sein, dass sich der Übergang von der Berufswelt in die Rentenphase, wie wir ihn bisher kennen, auflösen wird. In Zukunft werden die Menschen arbeiten und dann in einer nächsten Phase Arbeit und Freizeit miteinander verbinden. Anstelle des Rückzugs in den Ruhestand wird es einen Wandel im Verhältnis von Arbeitsleben und Erholung geben.- Umfragen des britischen Pensionsfondsverbandes NAPF haben ergeben, dass mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in Großbritannien befürchten, nicht genug zum Leben zu haben, wenn sie ihr Arbeitsleben beenden. 43 % der Beschäftigten können es sich demnach derzeit nicht leisten, etwas für ihre Rente zur Seite zu legen. Gibt es angesichts dieser Angaben überhaupt eine realistische Chance für eine erfolgreiche Rentenreform?In der Vergangenheit haben britische Regierungen immer wieder versucht, diese Herausforderungen zu bewältigen, entweder indem Details auf der Einnahmenseite oder indem – in einem fundamentaleren Ansatz – die Struktur der staatlichen Fürsorge geändert wurden. Bis 2020 wird nun das Alter für staatliche Renten bei Männern und Frauen auf 66 Jahre angehoben. Pläne der seit 2010 amtierenden Regierung lassen zudem erwarten, dass das Renteneintrittsalter mit zunehmender durchschnittlicher Lebenserwartung automatisch weiter steigen wird. Es gibt keinen Königsweg, um in Europa sichere oder gebrauchstaugliche Rentensysteme zu errichten. Eher wird es zu einer Ansammlung von Veränderungen kommen, um ein nachhaltiges System für künftige Generationen zu schaffen.- Es wird kritisiert, das gegenwärtige britische Pensionssystem sei so kompliziert, dass es kaum jemand versteht. Auch dies wird als Ursache dafür angesehen, dass zu wenige Menschen aktiv Altersvorsorge betreiben. Sind die Einwände berechtigt?Zweifellos wird das Rentensystem im Allgemeinen zu Recht als zu komplex angesehen – und dieser Vorwurf gilt sowohl für die betriebliche als auch für die staatliche Seite des Systems. Zwar ist verständlich, dass die Vermögenssituation geprüft und Änderungen an der zweiten staatlichen Säule vorgenommen werden sollen, doch die Komplexität erschwert das Verständnis des Systems und das Engagement der Menschen nachhaltig.- Die gegenwärtige Regierung will das System vereinfachen. Wie beurteilen Sie die Pläne?Neben dem automatisch steigenden Renteneintrittsalter soll eine neue Flatrate-Staatsrente eingeführt werden. Nach den Vorschlägen der Regierung werden die bestehenden Arrangements, bei denen die Einkommensverhältnisse überprüft werden, ersetzt für neue Pensionäre, nicht für Altrentner. Derzeit beträgt die volle Staatspension 97,65 Pfund pro Woche, kann jedoch durch Pensionsvorschüsse auf 132,60 Pfund erhöht werden. Nach den neuen Vorschlägen soll dieses System durch eine neue Flatrate-Rente von 140 Pfund abgelöst werden, wobei ein inflationsgetriebener Anstieg auf 155 Pfund bis 2015 oder 2016 im Raum steht. Das Mantra der Änderungsvorschläge lautet “Vereinfachung” mit dem ultimativen Ziel, Handlungsbarrieren zu reduzieren. Eine Vereinfachung des Pensionssystems ist wichtig, allerdings sind die Erschwinglichkeit und Effizienz des Systems wohl noch bedeutsamer.- Sie sprechen von Erschwinglichkeit und Effizienz. Wie passt das zusammen mit den Anforderungen zur Haushaltskonsolidierung in den kommenden Jahren?Ähnlich wie beim staatlichen Pensionssystem verfügt Großbritannien über einen der ältesten betrieblichen Altersversorgungsmärkte der Welt mit festgelegten Leistungen und mit festgelegten Beitragssätzen. Dieses betriebliche Rentensystem hat in der Vergangenheit häufig das erforderliche zusätzliche Einkommen für Pensionäre sichergestellt, aber die Regierung nimmt auch starken Einfluss auf diesen Bereich. Um die Verantwortung jedes Einzelnen für die eigene Vorsorge zu stärken, hat sie einen Sparfonds, den National Employment Savings Trust (NEST), eingerichtet.- Wie funktioniert der?Zum ersten Mal werden Unternehmen in Großbritannien verpflichtet, allen Beschäftigten die Möglichkeit zur Altersvorsorge anzubieten. Das heißt, dass künftig alle Arbeitnehmer für ihre eigene Rente ansparen und automatisch für eine Betriebsrente registriert sind. Diese Rente kann eine bestehende Einrichtung, ein neuer Versorgungsplan oder eben der Sparfonds NEST sein. Das neue System der sich automatisch ergebenden Verpflichtungen wird Folgen für Unternehmen jeder Größenordnung haben und in den Jahren 2012 bis 2016 eingeführt. Mit ihrer Etablierung verbindet sich die Hoffnung, dass geschätzte 7 Millionen Arbeitnehmer, die bislang kein Geld für ihre Altersvorsorge beiseitelegen, mit dem Sparen anfangen.- Einige britische Unternehmen kämpfen mit großen Defiziten in ihren betrieblichen Pensionskassen. Wird die geplante Reform dieses Problem in den Griff bekommen?Die Debatte über einen Pensionsplan mit bestimmtem Rentenbetrag (“defined benefit”) und mit bestimmtem Einzahlungsbeitrag (“defined contribution”) dauert nun schon viele Jahre an. Aber die raue Wirklichkeit ist doch, dass viele Unternehmen an den Schwankungen in der Bilanz und den langfristigen Verbindlichkeiten, die durch einen Pensionsplan mit bestimmtem Rentenbetrag hervorgerufen werden, einfach zu schwer zu tragen haben. Deshalb hat sich die Reformdiskussion auf das Pensionssystem mit festgelegtem Einzahlungsbeitrag verlagert und vor allem auf die Frage, wie dieses System besser gestaltet werden kann. Dies hat zu einer breiten Auswahl von Anlageinnovationen geführt – wenngleich die größten Herausforderungen nach wie vor die Überzeugung der Menschen, deren nachhaltige Verpflichtung sowie deren ausreichende Beitragsleistungen sind. Die nun geplante automatische Verpflichtung wird das erste Problem lösen, indem sichergestellt wird, dass die Menschen in ihren Rentenplan einzuzahlen beginnen. Aber dann ist noch dafür zu sorgen, dass sie genug und lange genug einzahlen werden. Wenn die gegenwärtigen Reformvorschläge in der Praxis nicht funktionieren sollten, dürfte es nicht lange dauern, bis Zwangsmaßnahmen eingeführt werden und es zu einem höheren Mindestniveau der Beitragsraten kommt.- Haben Sie den Eindruck, dass die Reformen dieser Regierung in ein tragfähiges und belastbares Rentensystem münden werden?Es gibt keinen Zweifel, dass wegen des demografischen Trends Herausforderungen auf die Gestaltung des Pensionssystems warten. Doch die Regierung bemüht sich um ein nachhaltiges und finanziell tragbares Rahmenwerk für das staatliche wie für das betriebliche Rentensystem. Die Philosophie ist scheinbar, dass der Staat ein Sicherheitsnetz bietet, aber dass erst die betriebliche Rente den Menschen das notwendige Einkommensniveau im Rentenalter oberhalb und unterhalb der durchschnittlichen Grundversorgung sichern wird. Zu hochfliegenden Ambitionen eines hohen Pensionseinkommens für alle ist zu sagen, dass dies realistischerweise nur zu erheblichen Kosten möglich wäre, die die gesamte Gesellschaft zu tragen hätte. Mein Gefühl ist, dass es zumindest im Augenblick keine kollektive Absicht gibt, für eine zunehmend älter werdende Bevölkerung aufzukommen.- Wie lauten die Koordinaten für das britische Rentensystem der Zukunft?Eine Gesellschaft muss sicherstellen, dass Eigenverantwortung an die Stelle von Anspruchsdenken tritt. Zugleich aber müssen die Schwachen und Bedürftigen geschützt werden – dafür ist ein genauer Balanceakt notwendig.- Könnte das deutsche Pensionssystem etwas vom britischen übernehmen?Das Rentensystem in Deutschland ist seit mehr als 100 Jahren etabliert. Es wird behauptet, das Pensionssystem werde im Grundsatz in der gleichen Art finanziert wie zurzeit seiner Etablierung im 19. Jahrhundert – die Wahrnehmung von einem Dinosaurier-System liegt jedoch völlig daneben. Das deutsche System, das den Teil der Bevölkerung, der ins Rentenalter kam, über Generationen hinweg großzügig unterstützt hat, musste modifiziert und geändert werden unter demselben Druck, der jetzt auf dem britischen Pensionssystem lastet. Doch wie in Großbritannien waren und sind die Instrumente, die Regierung und Unternehmen zur Verfügung stehen, limitiert. Es hat Steueränderungen gegeben, um die individuelle Verantwortung zu stärken, Änderungen in der Besteuerung von Staatsrenten, neue steuereffiziente Pensionsfonds sind als Ansparvehikel erfolgreich, und die Gesetzgebung hat die staatliche sowie die betriebliche Alterversorgung gestärkt. Fundamental wichtiger aber war, dass harte, aber realistische Entscheidungen mit Blick auf das Renteneintrittsalter sowie auf die Rentenbezüge getroffen wurden.- Also ist es aus Ihrer Sicht um das deutsche Pensionssystem gar nicht so schlecht bestellt?Die Wahrheit für Großbritannien und Deutschland wie für die anderen “entwickelten Nationen” ist doch, dass die Menschen länger leben und dass die gesamte Gesellschaft älter wird. Ein Festhalten am Status quo wäre langfristig keine nachhaltige Option. Das bedeutet, dass schwierige Beschlüsse bezüglich Steueränderungen, höheren Renteneintrittsalters, der Übertragung von mehr Verantwortung auf den Einzelnen und schließlich auch bezüglich geringerer Leistungen gefasst werden müssen. Jedoch muss jede Reform alle drei Säulen der staatlichen, betrieblichen und persönlichen Vorsorge berücksichtigen. Der Einzelne muss angemessen zu seiner Pension beitragen, während der Staat ein Sicherheitsnetz für die Schwächeren der Gesellschaft spannt. Nur so kann eine Gesellschaft ein nachhaltiges Rentenrahmenwerk für die Zukunft schaffen.—-Das Interview führte Carsten Steevens. Zuletzt erschienen: – Italiens Pensionsfonds haben noch Potenzial (16.8.)- Japan hat vorgesorgt (9.8.)- Frankreich: Rentenreförmchen reicht nicht aus (2.8.)