Deutsche Gesellschaften ohne Eigenkapital
Von Thomas Gruhn *) Ein Gespenst geht um: In den Bilanzen deutscher Gesellschaften darf – den International Financial Reporting Standards (IFRS) zufolge – das Gesellschaftskapital nicht mehr als Eigenkapital ausgewiesen werden. IAS 32 verbietet dies wegen bestehender gesetzlicher oder vertraglicher Kündigungsrechte der Gesellschafter. Spätestens mit Vorlage des Entwurfs der Interpretation der Standards IDW ERS HFA 9 durch das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) wurde deutlich, dass dieses Szenario kein Hirngespinst, sondern leider Realität ist. Betroffen sind neben Genossenschaften vor allem Personenhandelsgesellschaften, d. h. offene Handelsgesellschaften (OHG), Kommanditgesellschaften (KG) und die beliebte GmbH & Co. KG – sowie viele Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH). WidersinnigPikant ist, dass – während das Kommanditkapital und die Einlagen persönlich haftender Gesellschafter und das Stammkapital von Gesellschaften mbH nicht als Eigenkapital behandelt werden dürfen – einzelne Genussscheinprogramme dem Mittelstand die Stärkung ihres bilanziellen Eigenkapitals auch unter IFRS versprechen. Während also der “harte Kern” des Gesellschaftskapitals deutscher Rechtsformen, die es teilweise seit Einführung des Handelsgesetzbuchs (HGB) vor über einhundert Jahren gibt, nicht als bilanzielles Eigenkapital behandelt werden darf, sollen moderne Finanzierungsinstrumente genau dies ermöglichen. Das erscheint widersinnig.Die IFRS sind jedoch von bestimmten Rechtstraditionen völlig unabhängig. Anders als das HGB stellen die IFRS Bilanzierungsregeln auf, die für alle Rechtsformen gleichermaßen gelten. Alle Finanzierungsinstrumente – ob es sich um gesellschaftsrechtlich geregelte Einlagen handelt oder um am Reißbrett entworfene innovative Finanzierungsformen – werden nach ein und demselben Kriterienkatalog in die Kategorien Eigenkapital und Fremdkapital eingeordnet.Bei Personenhandelsgesellschaften können die Gesellschafter kraft Gesetz die Gesellschaft kündigen, wenn sie ausscheiden wollen. Ein solches ordentliches Kündigungsrecht kann gesellschaftsvertraglich nur für eine bestimmte Zeit beschränkt oder ausgeschlossen werden. Bei Gesellschaften mbH besteht zwar kein gesetzliches ordentliches Kündigungsrecht, ein solches kann jedoch gesellschaftsvertraglich vereinbart werden, was in der Praxis in vielen Fällen geschehen ist. Von entscheidender Bedeutung für die bilanziellen Konsequenzen unter IFRS ist dabei, dass sich der Abfindungsanspruch – direkt oder über eine subsidiäre Haftung indirekt – gegen die Gesellschaft richten kann. Kann die Gesellschaft durch eine (ordentliche) Kündigung in die Lage geraten, dass sie sich einer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem kündigenden Gesellschafter nicht zu entziehen vermag, ist das Gesellschaftskapital unter IFRS als Fremdkapital auszuweisen. BewertungsproblemDas größte Problem stellt in diesem Fall die Bewertung des in Fremdkapital umqualifizierten Gesellschaftskapitals dar. Nach Lage der Dinge ist eine Bewertung zum Fair Value, d. h. dem Marktwert oder dem aus Bewertungsmodellen abgeleiteten “Als-ob-Marktwert”, geboten. Dies würde zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, dass sich eine erfolgreiche und somit wertsteigernde Unternehmenspolitik dem Bilanzleser als Minderung von Ergebnis und bilanziellem Eigenkapital darstellen würde, eine erfolglose und wertmindernde Unternehmenspolitik umgekehrt als Erhöhung von Ergebnis und bilanziellem Eigenkapital – verkehrte Welt! Hoffnung für Gesellschaften deutscher Rechtsformen geben neue Entwicklungen bei IAS 32. Das International Accounting Standards Board (IASB) hat mittlerweile seine neuen Überlegungen zu “Puttable Instruments” – das sind mit Andienungs- oder Kündigungsrechten ausgestattete Instrumente, z. B. Anteile an Personenhandelsgesellschaften – vorgelegt. Darüber hinaus hat das FASB, der US-amerikanische Standard Setter, ein Diskussionspapier veröffentlicht, das im Rahmen des gemeinsamen Konvergenzprojekts mit dem IASB auch Auswirkungen auf die IFRS haben wird, den sogenannten “Milestone One Draft”. Nach den Vorstellungen des IASB sollen Finanzinstrumente – ungeachtet bestehender Andienungs- oder Kündigungsrechte – dann als Eigenkapital klassifiziert werden, wenn ihre Ablösung zum Fair Value erfolgt (“Instruments Puttable at Fair Value”). Dies würde für deutsche Rechtsformen bedeuten, dass das gesellschaftsrechtliche Eigenkapital ungeachtet bestehender Kündigungsrechte als Eigenkapital in einer IFRS-Bilanz ausgewiesen werden kann, wenn die Gesellschaftsverträge die Abfindung ausscheidender Gesellschafter zum Verkehrswert vorsehen. Das FASB kommt mit seinen Vorschlägen deutschen Gesellschaften noch weiter entgegen. Es differenziert zwischen börsennotierten und nichtbörsennotierten Unternehmen und lässt für nichtbörsennotierte auch eine Abfindung zum Buchwert zu. Sollten sich die Vorstellungen des FASB durchsetzen, verspricht dies den deutschen Personenhandelsgesellschaften und Gesellschaften mbH eine sachgerechtere Bilanzierung des Gesellschaftskapitals. Zwei MöglichkeitenNach Lage der Dinge gibt es für deutsche Firmen zwei Möglichkeiten: 1. Sie können auf die Neuregelung von IAS 32 setzen, in der Hoffnung, dass damit die derzeitigen Probleme gelöst sind, und – sollte dies nicht der Fall sein – sich in das Schicksal einer Eigenkapitalquote von null fügen; 2. Sie können ihre Gesellschaftsverträge so gestalten, dass auch unter den derzeit geltenden, rigiden Regelungen des IAS 32 der Ausweis des Gesellschaftskapitals als Eigenkapital möglich ist.Dass mit der geplanten Neuregelung die derzeitigen Probleme mit IAS 32 beseitigt werden, ist nicht gewiss. Die Verabschiedung eines überarbeiteten IAS 32 könnte für viele zu spät kommen. Nachdem kapitalmarktorientierte Unternehmen, die Eigenkapitalinstrumente begeben haben, bereits für 2005 nach IFRS Rechnung legen mussten, trifft diese Verpflichtung Unternehmen, die ausschließlich Schuldinstrumente begeben haben oder begeben wollen, spätestens 2007.Sollte ein nach IFRS bilanzierendes Unternehmen kein Eigenkapital ausweisen dürfen, mag es sich darauf verlassen, dass die IFRS u. a. zu den begebenen Eigen- und Fremdkapitalinstrumenten umfangreiche Erläuterungen im Anhang vorsehen und es erlauben, durch eine besondere Bezeichnung der entsprechenden Bilanzposten deren wahren wirtschaftlichen Charakter zum Ausdruck zu bringen. Die Verzerrungen durch eine Bewertung des in Fremdkapital umqualifizierten Gesellschaftskapitals zum Fair Value durch Zusatzangaben im Anhang richtig zu stellen, ist jedoch eine äußerst schwer lösbare Aufgabe. Auch besteht ein nicht zu unterschätzendes Risiko darin, dass viele Bilanzleser recht flüchtige Leser sind und nur klare und in kurzer Form dargebotene Informationen zur Kenntnis nehmen. Gesellschaften, die gemäß den IFRS bilanzieren, ist deshalb anzuraten, einer IFRS-adäquaten Neugestaltung ihrer Gesellschaftsverträge näher zu treten. Selbst wenn Ansprüche ausscheidender Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft im Fall einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung einer Beteiligung rechtlich nicht ausgeschlossen werden können, so kann doch vermieden werden, dass sie wirtschaftliche Relevanz erlangen. In diesem Fall wäre der Eigenkapitalausweis nach IFRS nicht ausgeschlossen. Zu diesem Zweck entwickelte Lösungsansätze sehen die Abwicklung von Kündigungen auf der Ebene der Gesellschafter statt auf der Ebene der Gesellschaft vor. Sie arbeiten mit Kombinationen von Andienungs- und Übernahmepflichten. Es ist Zuversicht angebracht, dass sich die Gesellschaftsverträge von Personenhandelsgesellschaften und Gesellschaften mbH so gestalten lassen, dass deren Gesellschaftskapital auch bei einer Bilanzierung gemäß IFRS weiterhin als Eigenkapital ausgewiesen werden darf.*) Thomas Gruhn ist Wirtschaftsprüfer und Steuerberater der Sozietät Clifford Chance in Frankfurt.