Recht und Kapitalmarkt

Die wahre Corporate-Governance-Herausforderung

Diskussionskultur als Voraussetzung für effektive Unternehmensführung - Industrie ist nicht für Finanzkrise zur Verantwortung zu ziehen

Die wahre Corporate-Governance-Herausforderung

Von Daniela Weber-Rey *)Im Rahmen der politischen Aufarbeitung der Finanzkrise ist eine grundlegende Frage weitgehend außer Acht geblieben: Wären die Folgen nicht leichter einzudämmen gewesen, wenn Aufsichtsorgane von Finanzinstituten über ein tiefergehendes Verständnis der mit bestimmten Strategien verbundenen Risiken verfügt hätten und diesen Risiken nachhaltiger entgegengetreten wären?Das Grünbuch der EU-Kommission betreffend die Corporate Governance im Finanzsektor vom Juni 2010 bezeichnet die Corporate Governance als das Herzstück zukünftiger Regulierung mit dem Ziel der Krisenverhütung und erklärt den Board zum Schlüsselfaktor im Machtzentrum. Für eine effiziente Zusammenarbeit im Aufsichtsorgan hebt das Grünbuch einige Schwächen der Governance hervor und überlegt, wie diesen entgegenzuwirken ist. Zwar haben diese Schwächen die Krise nicht ausgelöst, den Aufsichtsgremien zahlreicher Finanzinstitute ist es aber nicht gelungen, deren Risikobereitschaft zu zügeln und damit die Folgen der Krise einzudämmen. Immer mehr RegulierungSchon erschallen die Rufe nach immer weiterreichender Regulierung. In der Finanzbranche besteht aber bei Überregulierung die Gefahr, dass die Finanzinstitute ihren Beitrag zu Erholung und Wachstum der Wirtschaft nicht in der erforderlichen Weise leisten können. Es gibt eine Vielzahl sich teilweise überschneidender Regulierungsvorschläge, die mehrheitlich auf Bestrafung der Finanzinstitute und deren Organe und Mitarbeiter abzuzielen scheinen. Das Grünbuch ist jedoch bestrebt, in einigen Themen eine Überholung der Corporate-Governance-Grundsätze und deren effektivere Umsetzung anzustoßen.Gegenstand der Corporate Governance sind weniger Regelungssysteme als vielmehr Verhaltensweisen. Das Grünbuch fordert daher Verhaltensänderungen. Die Unternehmensführung muss die Änderung von Unternehmenskultur und Denkmustern herbeiführen, nicht nur Strukturänderung betreiben. Widerspruch gefragtDie Unzulänglichkeiten des Handelns einiger Aufsichtsgremien während der Finanzkrise hatten ihren Grund darin, dass manche Gremien die Einhaltung aufsichtsrechtlicher Vorgaben – die pflichtbeflissen befolgt wurden – nicht von vernünftigen Unternehmensstrategien zu unterscheiden wussten. Es fehlte die Fähigkeit und dann die Bereitschaft, Vorschlägen und Entscheidungen der Unternehmensleitung entgegenzutreten. Die Kompetenz von Aufsichtsgremien und die Notwendigkeit ihrer Professionalisierung wurden lang und breit diskutiert. Sicherlich müssen die Mitglieder der Aufsichtsgremien über ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, um die Entscheidungen der ausführenden Organe verstehen und angemessen kontrollieren zu können. Expertise allein gewährleistet jedoch noch keine effektive Governance.Die größten Gefahren bei der Tätigkeit eines Aufsichtsgremiums sind Gruppendenken – die Neigung, der Auffassung von Kollegen, insbesondere der des Vorsitzenden, zu folgen – und die daraus resultierende Gleichförmigkeit der Meinungen. Dieser Konsenskultur kann ein Mehr an Kompetenz nur teilweise entgegenwirken. Die wirkliche Herausforderung für die Mitglieder von Aufsichtsorganen besteht darin, mit der Unternehmensleitung vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, sie aber dennoch wirksam zu kontrollieren.Die richtige Gesprächs- und Entscheidungskultur in Aufsichtsgremien kann zweifellos einen Beitrag hierzu leisten. Wenn eine solche Kultur wachsen soll, kommt dem Vorsitzenden des Aufsichtsorgans zentrale Bedeutung dabei zu, die Funktionsfähigkeit des Gremiums zu gewährleisten und Sorge dafür zu tragen, dass die Organmitglieder ihren Beitrag zur Entwicklung der Strategie des Finanzinstituts leisten können, indem sie diese in konstruktiver Weise hinterfragen, sich eventuell Alternativen aufzeigen lassen.Geistige Unabhängigkeit kann auch dadurch gefördert werden, dass deren Zugang zu entscheidenden Informationen gewährleistet wird und sie verpflichtet werden, mehr Zeit für die Ausübung ihrer Aufsichtstätigkeit aufzuwenden.Perspektivenvielfalt innerhalb eines Aufsichtsgremiums trägt ebenfalls zu einer gesunden Diskussionskultur bei. Bei der Auswahl neuer Organmitglieder sollte der Tendenz entgegengewirkt werden, ausschließlich Personen zu ernennen, die den vorhandenen Mitgliedern stark ähneln und aus ein und demselben Netzwerk stammen. Fachliche Expertise und Erfahrung sind zwar von wesentlicher Bedeutung. Eine sinnvolle Diskussion ist aber nur dann möglich, wenn zusätzlich ein breites Spektrum unterschiedlicher Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen im Gremium vertreten ist. Dies wird auch als Argument angeführt, um eine Berufung von Frauen in Aufsichtsorgane durchzusetzen, die ihrerseits andere Standpunkte und Verhaltensweisen in diese Gremien einbringen.Zentrale Aufgaben der Aufsichtsorgane sind Ermittlung der Risikobereitschaft und Risikokontrolle. Nur so kann sichergestellt werden, dass Strategie und Risikoprofil einander entsprechen. Die Qualität der Debatte wird von der internen Risikokultur abhängen und davon, ob sich in zunehmendem Umfang einzelne Organmitglieder durch Rückfragen und Nachhaken bis zu offenem Widerspruch einbringen – was voraussetzt, dass sie über ausreichende Informationen, nötige Zeit und erforderliches Verständnis verfügen.Lässt sich eine Kultur des Hinterfragens messen und überprüfen? Teilweise wird erwogen, sie zum Gegenstand externer Prüfverfahren zur Bewertung der Leistung des Aufsichtsgremiums zu machen. Die britische Finanzaufsichtsbehörde, die Financial Services Authority, wendet nach eigenen Angaben bei natürlichen Personen einen Eignungstest an, der auch deren Fähigkeit zum Widerspruch prüft. Einige andere Staaten haben ebenfalls begonnen, derartige Eignungstests für Mitglieder von Aufsichtsorganen einzuführen. Die OECD hat dazu aufgerufen, solche Eignungstests und Evaluierungen in noch größerem Umfang durchzuführen. Das Grünbuch schließt sich dieser Auffassung an. Kultureller WandelEs ist ein höheres Maß an Proaktivität gefordert, außerdem Bereitschaft, Vorschläge des Managements zu hinterfragen und zu überprüfen. Im Vorfeld der Krise wurde deutlich, wie schwer es für ein Aufsichtsgremium ist, Entscheidungen einer scheinbar erfolgreichen Unternehmensleitung in Frage zu stellen. Die Chancen guter Aufsichtstätigkeit steigen stark, wenn ein kultureller Wandel stattfindet und Überlegungen von Aufsichtsorganen zu Strategien und Risiken zunehmend als Resultat fundierter Information und Diskussion eingeschätzt werden.Neuorientierungen bei der Beantwortung der Frage, was gute Unternehmensführung in der Finanzbranche ausmacht, haben potenziell weitreichende Folgen. So beschränkte sich der Auftrag zum Walker Review im Vereinigten Königreich ursprünglich auf die Bewertung der Governance in der Finanzbranche; die daraus hervorgegangenen Ergebnisse fanden aber ihren Niederschlag in Änderungen des britischen Code und gelten damit für alle notierten Unternehmen. Die in der Krise deutlich gewordenen Defizite in den Aufsichtsgremien beschränken sich gewiss nicht auf den Finanzsektor – die Erfahrungen könnten also als Appell für Aufsichtsgremien jeglicher Art dienen, offene Diskussionskultur, Hinterfragen, gar Widerspruch als wesentlichen Bestandteil einer guten Unternehmensführung anzusehen.Gleichzeitig ist aber davor zu warnen, Regulierung von Finanzinstituten hinsichtlich Corporate-Governance-Themen ohne genaue Untersuchung der Unterschiede zwischen Finanzsektor und Industrie zu übernehmen. Regeln zur Krisenverhütung mögen im Finanzsektor unvermeidlich erscheinen – die Industrie kann für die Finanzkrise nicht zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt daher nicht in dem Maße Grund, an den Grundfesten hergebrachter Corporate Governance zu rütteln. Zu achten ist eher darauf, schon lange bestehenden Regeln zu besserer Durchsetzung zu verhelfen – offene Diskussionskultur, Perspektivenvielfalt und Hinterfragen von Entscheidungen wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.—-*) Daniela Weber-Rey, Partnerin von Clifford Chance, ist Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex.