Digital-M&A erfordert besondere Regelungen
Von Christoph Seibt *)Vor 20 Jahren stammten Erwerber und Zielgesellschaft bei einer M&A-Transaktion in der Regel aus derselben Industrie und derselben Region. Vor zehn Jahren wurde die regionenübergreifende Transaktion, häufig auch mit Erwerbern aus Emerging Markets, Normalität. Nun ist die sektorenübergreifende Transaktion praxisbildend: Etwa 70 % der M&A-Transaktionen fielen 2016/17 in diese Kategorie. Dabei sind Techunternehmen mit ca. 20 % der Erwerbe (2017; 2012: nur 14 %) beliebte Ziele. Die Mehrheit der Erwerber von Techunternehmen waren 2016 erstmals sektorenfremde Nicht-Tech-Unternehmen (70 %). Der Grund hierfür ist augenscheinlich: Die disruptiven Wirkungen der Digitalisierung erfassen praktisch alle Geschäftsmodelle in allen Branchen. Die Geschäftsleitungen vieler Unternehmen entwickeln im Rahmen des Corporate Resilience Management Strategien der Ambidexterität, also des Aufbaus neuer digital- und datenbasierter Geschäftsmodelle neben der Weiterführung traditioneller Angebote. M&A-Transaktionen sind dabei Teil der Strategie, frei nach dem Motto: It’s better to acquire disruption technology than to be disrupted by that technology. Die Werttreiber von Digital Technology-M&A sind Technologie-Know-how und Schutzrechte, Daten, Netzwerkpartnerschaften sowie qualifizierte Mitarbeiter, die für eine Unternehmenskultur der Agilität stehen.Bei Digital-Technology-Transaktionen gibt es strukturell häufiger Joint-Venture-Gestaltungen und strategische Partnerschaften mit zum Teil nur Minderheitsbeteiligungen der Nicht-Techunternehmen. Selbst bei Vollübernahmen entscheiden sich die Erwerber darüber hinaus nicht selten nur für eine “Light-Touch”-Post-Merger-Integration. Beide Phänomene sind Ausdruck der Risikoeinschätzung, dass sich durch eine Vollintegration in die Erwerbergruppe die sich aus den Mitarbeitern und der spezifischen Techunternehmenskultur ergebenen Wertpotenziale nicht optimal heben lassen. Bei börsennotierten Erwerbern werden allerdings Vollübernahmen wegen der deutlich geringeren Governance-Komplexität und dem exklusiven Technologiezugriff ausweislich der Börsenkursreaktion in der Regel positiver als Joint Ventures bewertet. Typische RisikenBei der Vertragsausgestaltung gelten gegenüber traditionellen M&A-Dokumenten eine Reihe von Besonderheiten, und zwar erstens in der Absicherung der wertvollen Erwerbsbestandteile, zweitens bei der Kaufpreisstruktur und drittens beim Schutz vor typischen Digital-Technology-Risiken. Selbst beim Anteilskauf (Share Deal) stehen wirtschaftlich der dinglich abgesicherte Erwerb der Technologie und Daten(banken) sowie die sich hierauf beziehenden Schutzrechte im Vordergrund. Nicht selten ist problematisch, ob überhaupt Schutzrechte (in allen relevanten Jurisdiktionen) bestehen und bejahendenfalls, ob diese dem Zielunternehmen und nicht etwa (freien) Mitarbeitern oder Netzwerkpartnern zugeordnet sind.Als sekundäre Absicherung kommen Garantien und Freistellungen in Betracht, und zwar wegen deren hoher Bedeutung nicht selten in gleichem Schutzumfang ausgestaltet wie Rechtsgarantien für die Erwerbsanteile, also z. B. mit einer schwachen, lediglich auf den Kaufpreis bezogenen Haftungsbeschränkung.Je nach Verkäuferstruktur findet die Effektivierung dieser elementaren Garantien häufig auch über eine Gewährleistungsversicherung statt. Zur Absicherung der Schlüsselmitarbeiter wird in der Regel ein Teil des wirtschaftlichen Kaufpreises in mehrjährige Retention-Zahlungen an diese übersetzt.Beim Garantiekatalog steht der Schutz vor folgenden Geschäftsrisiken im Vordergrund: erstens gesetzliche und vertragliche Haftungsrisiken aus der Konnektivität und Offenheit der Geschäftsprozesse, insbesondere der vertraglichen oder nur tatsächlichen Software- und Datenverknüpfung zwischen dem Zielunternehmen und Netzwerkpartnern, und vom Zielunternehmen tatsächlich ergriffene Risikominimierungsmaßnahmen (z. B. Back-to-back-Vertragsregelungen, Nutzungs- und Warnhinweise); zweitens Auswirkungen existierender (und ggf. angekündigter oder vorhersehbarer) Regulierung auf das aktuelle Geschäftsmodell und dessen mögliche sachliche oder regionale Ausweitung; drittens rechtlich abgesicherte Nutzbarkeit der Technologie und der bestehenden oder sich aus den Systemen generierbaren Datenbestände; viertens Einhaltung von Datenschutzbestimmungen; fünftens Angemessenheit und Zuverlässigkeit von Compliance- und Digital-Governance-Systemen; sechstens zulässige Nutzbarkeit von Open-Source-Software und die Abschottung eigener Entwicklung hiervon; siebtens angemessener Schutz vor Cyberrisiken in Vergangenheit (Beispiel: Post-Closing-Haftung von Tiscali von 77 Mill. Pfund für Datenhack-Schäden bei Erwerbsunternehmen Talktalk) und Gegenwart; achtens Robustheit der steuerlichen Strukturierung des Geschäftsmodells (insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Kritik an der steueroptimierten Gestaltung von Online-Geschäftsmodellen). Spezifische MAC-KlauselnIn diesen Bereichen haben sich jeweils neue Standards entwickelt, wobei die Risikoabsicherung in erster Linie durch eine “digital ready”-Unternehmensprüfung erfolgt, daneben über eine besondere Kaufpreisstruktur mit Earn-out- bzw. Milestone-Zahlungen und erst zuletzt durch spezifische Garantie- und Freistellungsabreden. In der Praxis als wichtig hat sich auch die digitalspezifische Formulierung der Material-Adverse-Change-(MAC-)Klausel zur Risikoabsicherung der häufig längeren Phase zwischen Vertragsunterzeichnung und Transaktionsabschluss (Closing) herausgestellt: Diese Klausel erlaubt den Erwerbsrücktritt oder jedenfalls die Kaufpreisanpassung bei Eintritt von z. B. Datenhack-Angriffen (Beispiel: Kaufpreisreduktion von Verizon beim Yahoo-Erwerb um 350 Mill. US-Dollar zum Schadensausgleich vor dem Hintergrund einer weiteren MAC-Klausel) und erheblichen Technologie- oder Mitarbeiterverlusten.Bei der Prozessgestaltung von Digital-Technology-Transaktionen ist nicht nur die geänderte Ausrichtung bei der Due Diligence besonders, sondern auch die dortige interdisziplinäre Zusammenarbeit von Juristen mit Softwareanalyse-Spezialisten sowie der Einsatz von Data-Analytics-Werkzeugen. Die Due-Diligence- und Verhandlungsphase ist vor allem auch aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität der Verkaufsprozesse regelmäßig zeitlich kürzer als bei der Norm-Transaktion – und das obwohl Digital-Technology-M&A im Regelfall ein komplexer Multi-Stakeholder-Prozess ist: Es gibt häufig eine Vielzahl von Verkäufern, darunter Gründer und Schlüsselmitarbeiter, die auch nach der Transaktion beim Zielunternehmen einen bedeutenden Wertfaktor ausmachen – und das bedeutet regelmäßig Vertragskomplexität, gestreckte Kaufpreiszahlungen und W&I-Versicherung.Darüber hinaus sind auch sonstige Mitarbeiter und Netzwerkpartner über Begleitvereinbarungen in die Gesamttransaktion einzubeziehen. Trotz zuweilen geringer Umsätze der Erwerbsunternehmen können Kartellrechtsverfahren Anwendung finden, da die Behörden bei Tech-Unternehmen jetzt häufiger nicht auf Umsätze, sondern den Transaktionswert (z. B. Deutschland, USA) oder die Marktstellung (z. B. Großbritannien) abstellen. Nationale SchutzrechteUnd immer größere Bedeutung haben auch die nationalen Investitionsschutzrechte, wie das AWG/AWV in Deutschland oder CFIUS in den USA, das im Übrigen auch auf Zielunternehmen außerhalb der USA Anwendung findet, sofern nur US-Interessen (nach Auslegung der US-Administration) durch den Deal betroffen sind. Das alles macht eine besonders sorgfältige Vorfeldstrukturierung und Spezialberatung notwendig, zuweilen auch eine besondere Binnen- und Außenkommunikation, um Widerstände bestimmter Stakeholder zu überwinden.Der Einsatz bei Digital-Technology-M&A ist zwar hoch, aber lohnend: Denn in vielen Fällen sichern nur diese Transaktionen – mangels eigener digitaler Innovationsfähigkeit – das nachhaltige Überleben von (bislang noch) Nicht-Techunternehmen.*) Prof. Christoph Seibt ist Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer.