FINANZEN UND TECHNIK

Digitale Wallets stecken noch in Babysöckchen

Marktteilnehmer aus mehreren Branchen bringen sich in Stellung - Viele Hindernisse sind noch auszuräumen - Kundenakzeptanz ist bisher verhalten

Digitale Wallets stecken noch in Babysöckchen

Die zunehmenden Aktivitäten der Anbieter von digitalen Wallets vermitteln den Eindruck, die flächendeckende Verbreitung dieser Technologie stehe bevor. Doch massentaugliche Standards sind nicht abzusehen. Überdies müssen etliche Hindernisse ausgeräumt werden. Und auch bei der Kundenakzeptanz gibt es noch einige Fragezeichen.Von Franz Công Bùi, FrankfurtDigitale Wallets verheißen so etwas wie eine eierlegende Wollmilchsau zu werden. Bei den elektronischen Brieftaschen geht es um ein Potpourri an Funktionalitäten, das von Mobile Payment über Loyalty-Programme, Couponing, Ticketing bis hin zur Zugangskontrolle zum Auto oder Büro reichen kann. Nach wie vor gibt es unterschiedliche Definitionen und Ansätze, doch wie Danny Fundinger, Managing Consultant für Mobile Payments und Mobile Wallets bei IBM Deutschland, erklärt, werde zwar noch zwischen Digital und Mobile Wallets differenziert. Doch diese Unterscheidung sei eher historisch begründet, und die zwei Konzepte würden sich zunehmend aufeinander zubewegen. “War of Wallets”Mobile Payment spielt als “Enabler” bei praktisch allen derzeit entwickelten Lösungen die Hauptrolle. Und analog zum MPayment-Markt ist bei Wallets zurzeit ein grassierender Wildwuchs zu beobachten. Vertreter der Branchen Telekommunikation, Kreditwirtschaft und Handel sowie Großkonzerne und Start-ups aus dem Technologieumfeld (s. Tabelle) haben in diesem Jahr ihre Aktivitäten deutlich erhöht. Mitunter wird von einem “War of Wallets” gesprochen: Telefónica, E-Plus, Vodafone und die Deutsche Telekom haben im Verlauf des Jahres die Einführung ihrer Lösungen (O2Wallet, BASE Wallet, Smartpass, MyWallet) angekündigt. Im Einzelhandel will Rewe die Payment-Lösung Yapital der Otto Group implementieren, während Edeka seit Mai einen Feldversuch mit dem System des Anbieters Valuephone in Zusammenarbeit mit der Deutschen Post durchführt.Im Tech-Sektor gibt es bereits seit einiger Zeit die Google Wallet und Apple Passbook. Jüngst sind Microsofts WP8 Wallet, die Samsung Wallet und zuletzt auch die Paypal Digital Wallet dazu gestoßen. Und der Überblick geht vollends verloren bei den unzähligen Start-ups, die sich in diesem Segment tummeln. Laut Statista-Studie erwarten Experten bis 2016 einen Umsatz mit Mobile Payment von 617 Mrd. Dollar bei 450 Millionen Nutzern weltweit.Da an neuen Gerätetypen (Google Glass, Smartwatches) sowie Technologien wie etwa flexiblen OLED-Displays getüftelt wird, ist davon auszugehen, dass sich weitere Optionen entwickeln. Denn, wie Arne Pache, verantwortlich für Emerging Payments bei Mastercard, erklärt, werden durch ihre Verbindung zum Internet alle diese Geräte auch zu Commerce Devices.Bei der Datenübertragungstechnik gab es zuletzt ebenfalls Neues. Nachdem NFC und QR-Code (siehe Glossar) bislang den Technikdiskurs beherrschten, sorgten jüngst Apple und auch Paypal für Aufsehen, als sie die Potenziale der Beacon-Technologie (engl. für Leuchtfeuer) auf Basis von Bluetooth Low Energy (BLE) in den Fokus rückten. Mit Hilfe des Datenaustausches zwischen stationären und mobilen Geräten auf bis zu zehn Metern sollen “Hands-free Shopping” und “Frictionless Commerce” im stationären Handel ermöglicht werden. Gegen den Einsatz von BLE gibt es jedoch auch Bedenken bezüglich Datensicherheit und -schutz: “Bei NFC hat der Nutzer die Möglichkeit zu kontrollieren, wohin seine Daten fließen. Bei iBeacon von Apple zum Beispiel bestimmt das Netzwerk, wann welche Daten des Nutzers abgerufen werden”, erklärt Key Pousttchi, Leiter der Forschungsgruppe Wi-mobile der Universität Augsburg.Die teils gegenläufigen Interessen der diversen Parteien bilden derweil Hindernisse für die rasche Verbreitung der digitalen Brieftasche. Pousttchi konstatiert: “Jeder Anbieter hat bisher sich bzw. seine Marktposition dramatisch überschätzt. Und sie haben sich gegenseitig blockiert, insbesondere die lokalen Anbieter in Deutschland.” Wenn also davon gesprochen wird, dass MPayment sich noch in den Kinderschuhen befindet, erscheint die Feststellung angemessen, dass das digitale Wallet noch in Babysöckchen steckt. Bislang hat sich keiner der verschiedenen Ansätze als massentauglicher Standard durchgesetzt. Ursprünglich schien die Mobilfunkbranche in der aussichtsreichsten Position bei dessen Entwicklung zu sein. Denn zur Sicherung der Kundendaten in einer Wallet wird ein Secure Element benötigt. Dafür wäre technisch die SIM-Karte prädestiniert.Doch im Gegensatz zu den USA, wo Verizon, AT & T und T-Mobile gemeinsam an der ISIS Mobile Wallet arbeiten, setzen die hiesigen Branchenvertreter auf konkurrierende Produkte – und damit ihre gute Ausgangsbasis aufs Spiel, wie Olaf Acker, Partner und Mitglied der globalen Digital Practice von Booz & Company, erklärt: “Die Telcos haben bisher die Chance verpasst, den Standard zu setzen. Wem das gelingen wird, ist derzeit offen.”Eine Erhebung des Einzelhandels-Thinktanks EHI Retail Institute zeigt, dass das Vertrauen des Handels in die Federführung durch die Telcos binnen Jahresfrist deutlich gesunken ist (s. Grafik). Horst Rüter, Mitglied der EHI-Geschäftsleitung, bezweifelt aber, dass andere Lösungen in puncto Sicherheit an das Niveau der SIM-Karte heranreichen würden. Der hiesige Handel zeigt unterdessen ebenfalls Fragmentierungstendenzen. In den USA hat sich bereits vor über einem Jahr die MCX (Merchant Customer Exchange), ein Konsortium von Einzelhändlern, darunter Sears und Wal-Mart, gebildet, um eine eigene Lösung zu entwickeln. Kurz darauf gründete sich auch in Deutschland eine solche Initiative (vgl. BZ vom 1.11.2012). Doch nun kommen bei Einzelhändlern wie Edeka und Rewe unterschiedliche Systeme zum Einsatz. Dabei bietet Acker zufolge der derzeitige Umbruch für den Handel eine einmalige Chance, z. B. Rahmenbedingungen wie Kreditkartengebühren oder die Hoheit über die Kundendaten neu zu diskutieren. Google prescht vorLetzteres ist die Domäne der Technologieunternehmen. So war Google 2011 mit ihrer Wallet ambitioniert vorgeprescht. Doch das Projekt ist ins Stocken geraten, nicht zuletzt auch, weil es für Tech-Konzerne schwer ist, im stationären Einzelhandel Fuß zu fassen, wo Paypal derzeit am aktivsten ist. Apple wird von Experten zwar häufig eine gute Ausgangsbasis attestiert, was Kundenanzahl und Rechnungsverbindungen angeht. Doch die digitalen Anbieter treten in ein bestehendes Ökosystem am POS (Point of Sale) ein, das von der Kreditwirtschaft dominiert wird. Immerhin haben Google und Co. den Vorteil eines anderen Geschäftsmodells, nämlich den Verkauf von Werbung auf Basis von Kundendaten. So könnte es laut Fundinger für Google etwa durchaus interessant sein, im Austausch gegen die Kundeninformationen Transaktionen kostenlos abzuwickeln.Im Finanzsektor haben die Kreditkartenanbieter Mastercard und Visa ihre Systeme Paypass bzw. Paywave und V.me etabliert. Die Aktivitäten der Banken sind dagegen überschaubar. Abgesehen von Pilotprojekten wie etwa der Dortmunder Volksbank mit ihrer virtuellen Kreditkarte/Wallet-Anwendung für Mobiltelefone lassen beispielsweise die Verbünde BVR und DSGV auf Anfrage unisono verlauten, dass die Entwicklungen “intensiv beobachtet werden”. “Henne-Ei-Problem”Acker zufolge wird sich mittelfristig die Fragmentierung im Markt auflösen und die Kompatibilität der Systeme zunehmen. Für die flächendeckende Durchsetzung eines Wallet-Ökosystems ist das auch eine zwingende Voraussetzung. Fundinger warnt: “Der Wildwuchs ist sehr verwirrend für den Kunden. Wir haben jetzt schon Logos für Paypass, Paywave, Girogo etc. Diese Vielfalt wird durch die Wallets zunehmen.”Doch als größte Hürde wird zumeist das sogenannte “Henne-Ei-Problem” genannt: Einerseits müssen genügend NFC-fähige Kassenterminals im Handel vorhanden sein, andererseits müssen ausreichend Kunden über ein NFC-fähiges Smartphone verfügen. Rüter widerspricht dem jedoch: “Das Henne-Ei-Problem ist eigentlich gelöst, denn der Handel ist in Vorleistung gegangen, hat in die Infrastruktur investiert und die Kassensysteme umgerüstet. Fast 70 % der großen Händler bieten kontaktloses Bezahlen bereits an, das Nutzungsverhalten ist jedoch alles andere als euphorisch.”Dass der Kunde nur wenig Interesse an MPayment- und Wallet-Anwendungen zeigt, liegt auch daran, dass es noch an querschnittlichen, mehrwerthaltigen Diensten fehlt, die echten Nutzen bringen. Und der Wildwuchs droht die Konsumenten zu überfordern. Da der Screen eines Smartphones mit seinen darauf abgebildeten Apps in gewisser Hinsicht bereits wie eine Art Wallet funktioniert, muss die Frage erlaubt sein, ob die verschiedenen Digital-Wallet-Anbieter ein Problem lösen wollen, das für den Verbraucher vielleicht gar nicht existiert.