RECHT UND KAPITALMARKT

Droht der Musterfeststellungsklage schon wieder das Aus?

EU-Richtlinienvorschlag geht in die nächste Runde

Droht der Musterfeststellungsklage schon wieder das Aus?

Von Rupert Bellinghausen *)Seit Jahren wird in Deutschland und in der EU um die Einführung von Muster- oder Sammelklagen gerungen. Einigen konnte man sich bis vor kurzem nicht, zu groß ist die Bandbreite von der Class Action nach US-amerikanischer Prägung über die Verbandsklage bis zur Musterfeststellungsklage nach dem Vorbild des deutschen Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes. Die Forderung nach effizientem Verbraucherschutz und die Angst vor einer “Klageindustrie” standen sich in einer Pattsituation gegenüber. Erst der Dieselskandal hat den deutschen und europäischen Gesetzgeber gleichermaßen beflügelt. Beide schlagen aber grundverschiedene Wege ein.Den Anfang machte Deutschland. Die neue Regierung kündigte im März im Koalitionsvertrag die Einführung der Musterfeststellungsklage an und peitschte ihren Gesetzesentwurf in Rekordzeit durch die Gesetzgebungsorgane. Bekanntlich ist das “Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage” schon am 1.11.2018 in Kraft getreten und nahtlos zur ersten Bewährungsprobe angetreten: Rund 100 000 Verbraucher haben sich bisher der Musterfeststellungsklage gegen VW angeschlossen, die VZBV und ADAC angestrengt haben.Kaum eingeführt, könnte die Musterfeststellungsklage aber bald schon wieder überholt sein. Denn mit dem “New Deal for Consumers” hat die EU-Kommission einen Vorschlag für eine “Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen von Verbrauchern” veröffentlicht, die weit über die deutsche Musterfeststellungsklage hinausgeht. Am 6.12.2018 hat der Rechtsausschuss des EU-Parlaments diesen Vorschlag mit einer Reihe von Änderungen befürwortet.Die Richtlinie muss nun das EU-Gesetzgebungsverfahren passieren und im Anschluss in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Am Ende wird eine EU-Verbandsklage kommen, deren Attraktivität aus Verbrauchersicht und deren Missbrauchsanfälligkeit aus Unternehmenssicht irgendwo zwischen der deutschen Musterfeststellungsklage und der US-Class-Action liegen wird.Der Rechtsausschuss des EU-Parlaments hat einige Bedenken vor allem aus der Industrie aufgegriffen: Nach den Änderungen trägt nun die unterlegene Partei die Kosten der obsiegenden Partei, so dass missbräuchliche Klagen nicht mehr risikolos sind. Strafschadensersatz wie in den USA wird es nicht geben. Und mehrere Sammelklagen in derselben Sache sollen vermieden werden.Dennoch geht die EU-Verbandsklage weit über die deutsche Musterfeststellungsklage hinaus. Zwar sind hier wie dort nur Verbraucherverbände klagebefugt, das Klageziel unterscheidet sich aber wesentlich. Bei der deutschen Musterfeststellungsklage werden nur allgemeingültige Fragen vor die Klammer gezogen und in einem Feststellungsurteil für alle Verbraucher geklärt, die sich zuvor in ein Klageregister eingetragen haben. Falls es dann nicht zu einem Vergleich kommt, muss jeder Verbraucher noch separat auf Zahlung klagen, damit die verbleibenden Einzelfallfragen gerichtlich geprüft werden. “Zwangsbeglückung”Nach dem EU-Vorschlag kann der Verband sofort auf Schadensersatz klagen. Teilweise kann er dies sogar ohne ein Mandat tun, das heißt, ein Verbraucher weiß vielleicht überhaupt nicht, dass sein vermeintlicher Anspruch eingeklagt wird. Kritiker sprechen von “Zwangsbeglückung” und sehen hierin ebenso einen Verstoß gegen die kontinentaleuropäische Rechtstradition wie in der vorgesehenen “Discovery”, einem Zwang zur Herausgabe potenziell belastender Dokumente und Emails des Beklagten. Auch wenn es angesichts vieler Besonderheiten des US-Rechts nicht zu den von der Industrie gefürchteten amerikanischen Verhältnissen kommen wird, nähert sich der EU-Vorschlag eindeutig der US-Class-Action an. Wenn ein Verband zum Beispiel für alle Käufer eines bestimmten Produkts auf Schadenersatz klagen kann, ohne dass er diese Verbraucher zuvor kontaktieren und zur Teilnahme bewegen muss, dann hat dies insgesamt ein deutlich größeres Bedrohungspotenzial für das beklagte Unternehmen als nach aktueller Rechtslage. Es könnte deshalb zu erzwungenen Vergleichen kommen, ohne dass die Streitfragen gerichtlich geklärt werden, erst recht nicht unter Berücksichtigung unterschiedlicher Einzelfälle. Im PraxistestDer weitere Gesetzgebungsprozess wird zeigen, ob der eher vorsichtige Schritt des deutschen Gesetzgebers durch einen großen Wurf auf EU-Ebene überholt wird. Die deutsche Musterfeststellungsklage wäre dann nur noch zweite Wahl für Verbraucherverbände, es sei denn sie entpuppt sich in der Zwischenzeit als besonders effizienter Lösungsweg. Vielleicht wird schon die Klage gegen VW zeigen, ob die Musterfeststellungsklage eine Anekdote bleibt oder ob sie den kollektiven Rechtsschutz nachhaltig prägt, weil es nach einer zügigen Klärung der Feststellungsziele zu einem flächendeckenden Vergleich kommt. Auch die aktuell stark beworbenen Abtretungsmodelle einiger Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer hätten dann einen schweren Stand, weil der Verbraucher dort rund 30 % eines zukünftigen Klageerfolgs als Vergütung abgeben muss.—-*) Dr. Rupert Bellinghausen ist Partner bei Linklaters und Leiter der deutschen Dispute Resolution Praxis.