Recht und Kapitalmarkt

Droht ein grenzüberschreitender Verlusthandel?

Deutscher Gesetzgeber nach EuGH-Urteil gezwungen, eine Änderung des deutschen Organschaftssystems herbeizuführen

Droht ein grenzüberschreitender Verlusthandel?

Von Klaus Eicker *) Wohl kein anderes Urteil auf dem Gebiet der direkten Steuern hat ein so enormes Echo in der Öffentlichkeit hervorgerufen wie das Urteil vom Dezember 2005, das der EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer gefällt hat. Neben dem beträchtlichen Marketingeffekt für den Einzelhändler erhält Marks & Spencer wohl eine Steuerrückerstattung vom britischen Fiskus in zweistelliger Millionenhöhe. Denn trotz der zumeist für die Finanzverwaltungen positiven Darstellung des Urteils in den Medien muss die britische Finanzverwaltung wohl die aufgrund der Schließungen der Modehäuser in Belgien und Deutschland entstandenen Verluste mit den in Großbritannien erwirtschafteten Gewinnen verrechnen. Damit fällt auf der Insel eine niedrigere Steuerlast an. Können nun die Konzerne ihre ausländischen Verluste quer durch Europa mit ihren inländischen Gewinnen verrechnen? Rollt auf die Finanzverwaltungen eine Welle von Anträgen auf Verlustberücksichtigung zu? Ganz so schlimm, wie es einzelne Vertreter der Steuerbehörden dargestellt haben (teilweise sprach man von Steuerausfällen von bis zu 50 Mrd. Euro), wird es für den Fiskus nicht kommen. Zwar hat der EuGH festgestellt, dass die Nichtberücksichtigung ausländischer Verluste im Staat der Muttergesellschaft eine Behinderung der dem europäischen Unternehmen gewährten Niederlassungsfreiheit darstellt. Diese Freiheit darf aber durch zwingende Gründe, die durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden. Und der EuGH hat als so genannter Quasigesetzgeber strenge Kriterien aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit eine Konzernmutter die Verluste ihrer Tochter verrechnen darf.Der EuGH hat festgestellt, dass ein nationales System, in dem ein Konzern Verluste zwischen zwei inländischen Rechtsträgern verrechnen kann, unter Umständen diese Verrechnungsmöglichkeit auch grenzüberschreitend gewähren muss. Da der EuGH EG-rechtliche Prinzipien aufstellt, die von allen EU-Mitgliedstaaten in ähnlichen und vergleichbaren Sachverhalten zu beachten sind, wird das Urteil in Sachen Marks & Spencer auch für deutsche Unternehmen relevant sein. Bemerkenswerte PrinzipienBetrachtet man das Urteil etwas genauer, werden einige bemerkenswerte Prinzipien erkennbar. So ist klargestellt worden, dass grundsätzlich Verluste zum einen entweder bei der verlustgenerierenden Gesellschaft oder aufgrund bestimmter Voraussetzungen im Konzern zu berücksichtigen sind. Zweitens sollen Gewinne und dementsprechend auch Verluste dort besteuert und berücksichtigt werden, wo sie angefallen sind, d. h. im Staat der verlustgenerierenden Gesellschaft. Erst wenn aufgrund der in diesem Staat bestehenden Verlustrücktrags- und Verlustvortragsregelungen keine Möglichkeit mehr besteht, die Verluste zu berücksichtigen, und wenn die Konzernmutter dies nachweist, ist (bei bestehendem nationalem System der Verlustberücksichtigung) der Staat der Konzernmutter verpflichtet, die Verluste der in einem anderen Mitgliedstaat sitzenden Tochter im Staat der Mutter zu verrechnen. Damit ist die Besorgnis der deutschen Finanzverwaltung, die hier beträchtliche Steuerausfälle befürchtet hat, nicht ganz unbegründet. Denn das deutsche Organschaftssystem weist im Grundsatz dieselben Züge auf wie das englische Group Relief System. Auch die deutsche Organschaft gewährt die Verlustberücksichtigung nur zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften, die in Deutschland ihren Sitz haben. Dennoch enthält das deutsche Organschaftssystem einen wesentlichen Unterschied zum englischen Group Relief System: Den abzuschließenden Ergebnisabführungsvertrag sowie weitere Voraussetzungen, die eine Konzernmutter im Bezug auf ihre Töchter erfüllen musste, damit eine Organschaft auch mit steuerlicher Wirkung begründet werden konnte. Es gibt dennoch wichtige europarechtliche Argumente dafür, dass das Urteil in der Rechtssache Marks & Spencer auch für deutsche Unternehmen von sehr großer Relevanz sein kann. Viele Konzerne unterhalten ihre ausländischen Tochterkapitalgesellschaften trotz beträchtlicher Verlustgenerierung nur noch, um zu irgendeinem Zeitpunkt diese Verluste im Ausland geltend machen zu können. Einige Mitgliedstaaten der EU sehen aber Regelungen vor, die eine Verlustberücksichtigung aufgrund Zeitablaufs nicht mehr erlauben. In diesen Fällen kann es nun durchaus sinnvoll sein, mit Kappung der Verlustvorträge im Ausland durch Zeitablauf die Verluste in Deutschland zur Verrechnung zu bringen. Aber auch Konzerne mit Vertriebstöchtern, die Verluste einfahren, aber dennoch weitergeführt werden müssen, weil es vertragliche Verbindungen zu Kunden gibt, können möglicherweise jetzt schon nachweisen, dass die Verluste nicht mehr genutzt werden, da eine betriebswirtschaftliche Stilllegung der ausländischen Gesellschaft nach Ablauf der Verträge geplant ist. Auch in diesem Fall könnte eine Verlustberücksichtigung in Deutschland in Betracht kommen. Es wird sich erst in der Zukunft zeigen, welche Fülle von Sachverhaltskonstellationen hier denkbar ist. Der EuGH hat dieses Problem durchaus erkannt und ausdrücklich festgestellt, dass die Mitgliedstaaten allen Steuerplanungen durch Missbrauchsvorschriften einen Riegel vorschieben können. Nichtsdestotrotz zeigt die Praxis schon unmittelbar nach Verkündung des Urteils erste Beispiele, nach denen bisher betriebswirtschaftlich sinnlose Fortführungen von ausländischen Kapitalgesellschaften neu zu überdenken sind. Warnung vor KonstruktionenWegen der Fülle der komplexen ausländischen Vorschriften in Bezug auf Verlustverrechnungsmöglichkeiten ist es ratsam, jeden Einzelfall auf seine betriebswirtschaftliche und steuerliche Relevanz zu untersuchen und im Einzelfall durchaus einen Antrag auf Verlustberücksichtigung zu stellen. Vor rein “künstlichen” Steuerplanungen und Konstruktionen ist aber zu warnen. Bei aller Skepsis der Vergleichbarkeit der Organschaft mit dem UK Group Relief System aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen sollten dennoch die Rechtspositionen gewahrt werden, da letztlich erst ein deutscher “Marks- & -Spencer-Fall” Auskunft über die weitere Bedeutung des vom EuGH aufgestellten Prinzips geben kann. Betroffen sind zumindest alle Veranlagungszeiträume, die noch änderbar sind. Das heißt, es sollten alle Bescheide für Wirtschaftsjahre geprüft werden, die noch nicht bestandskräftig geworden sind. Dabei können Verluste berücksichtigt werden, die von unmittelbar oder mittelbar beherrschten Unternehmen im EU- und EWR-Ausland betroffen sind. Es sind unter europarechtlichen Gesichtspunkten allerdings nur solche Fälle relevant, bei denen vergleichbare Sachverhalte vorliegen. Im Wesentlichen müssen also die Voraussetzungen der Organgesellschaft auch bezüglich der ausländischen Tochterkapitalgesellschaften erfüllt sein. Ein nachträgliches, künstliches Konstruieren der Voraussetzungen ist wohl aus Missbrauchsgründen nicht zulässig. In jedem Fall ist der Gesetzgeber nun gezwungen, für die Zukunft eine Änderung des deutschen Organschaftssystems herbeizuführen. Denn die Voraussetzung, die der EuGH zur Verlustberücksichtigung aufgestellt hat, kann natürlich von den Unternehmen für die Zukunft genutzt werden, um neue Investitionen in einem EU-Mitgliedstaat so zu gestalten, dass in jedem Fall bei Entstehung von Verlusten diese auch im Staat der Muttergesellschaft zu berücksichtigen sind. Dennoch hat der EuGH auch der Europäischen Kommission ins Stammbuch geschrieben, dass diese Thematik einer gemeinschaftsrechtlichen Lösung bedarf. Die Kommission hat in einer ersten Stellungnahme eine Mitteilung angekündigt. Dem Vernehmen nach liegt zwar schon ein Richtlinienvorschlag zur Verlustberücksichtigung in der Schublade der Kommission, augenblicklich scheint aber die Kommission der Auffassung zu sein, dass eine derartig weit reichende Maßnahme wohl keine Chance auf einstimmige Annahme durch die Mitgliedstaaten hätte. *) Dr. Klaus Eicker ist Partner und Steuerberater bei Ernst & Young.