Eltern haften für ihre Kinder
Von Matthias Blaum und Thomas Paul *)Unternehmen verfolgen ihre Geschäftstätigkeit häufig durch Tochtergesellschaften. Das hat verschiedene Gründe. Ein zentraler Aspekt ist deren beschränkte Haftung, die eine gezielte Risikobegrenzung für das Gesamtunternehmen bewirkt. Das ist legitim und entspricht akzeptierter Praxis. Schon Mittelständler verfügen oft über Dutzende Tochterunternehmen, Dax- oder MDax-Unternehmen gar über Hunderte. Die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten solcher Konzerne sind zwar bilanziell im Konzernabschluss der Mutter zusammengefasst, rechtlich jedoch strikt voneinander zu trennen, weil sie durch den gesellschaftsrechtlichen Grundsatz der beschränkten Haftung gegeneinander abgeschirmt sind (Trennungsprinzip). Nur dort, wo aus Gründen der Steueroptimierung durch Beherrschungs- und Ergebnisabführungsverträge Gewinn-und-Verlust-Gemeinschaften über mehrere Gesellschaften hinweg gebildet werden, werden Ausgleichspflichten der Mutter begründet. Ausgliederung von RisikenDas Prinzip der beschränkten Haftung bietet die Möglichkeit, unternehmerische Risiken und Wagnisse in gewissen Grenzen planvoll auszugliedern. Das bedeutet nicht nur, sie konzernintern einem gesonderten Rechtsträger zuzuweisen, sondern auch, externe Gläubiger auf dessen Vermögen als alleinige Haftungsmasse zu verweisen. Aber dieser Haftungsschirm wird zunehmend porös. Immer häufiger durchbrechen Haftungsrisiken die Grenzen des Tochterunternehmens, dem sie zugeordnet sind. Haupttreiber dieser Erosion der beschränkten Haftung ist der Staat. Vor allem bei der Ahndung von Unternehmensverfehlungen – neudeutsch Compliance-Verstößen – durch Bußgelder und Strafzahlungen blickt er verstärkt durch die Grenzen der verantwortlichen Tochtergesellschaft hindurch, berechnet Strafen nach dem weltweiten Konzernumsatz und sucht sich im Konzern den solventesten Schuldner, meist die Obergesellschaft. Die nötigen gesetzlichen Grundlagen werden in immer mehr Rechtsbereichen geschaffen.Ein führendes Beispiel ist das Kartellrecht. Die Europäische Kommission belangt bei der Ahndung internationaler Kartellrechtsverstöße die jeweilige Muttergesellschaft mit Bußgeldern von bis zu 10 % des weltweiten Konzernumsatzes. Dies gilt auch, wenn sich der Verstoß in einer Tochter- oder Enkelgesellschaft ohne Kenntnis oder Verschulden der Mutter ereignet hat. Denn nach den einschlägigen EU-Regularien haftet das gesamte “Unternehmen” für den Verstoß. Besteht dieses aus Mutter- und Tochtergesellschaften, gilt: Eltern haften für ihre Kinder. Wende nach “Wurstkartell”Das nationale deutsche Kartellrecht bewertete dies traditionell anders und hielt am Grundsatz der beschränkten Haftung einzelner Gesellschaften fest. Doch das “Wurstkartell” brachte auch in Deutschland im Jahr 2017 eine Wende. Das Bundeskartellamt sah sich durch konzerninterne Umstrukturierungen von beteiligten Unternehmen um seine Bußgeldschuldner gebracht und rief den Gesetzgeber zum Handeln auf. Im Juni 2017 wurde die sogenannte “Wurstlücke” weitgehend beseitigt. Seitdem gilt bei Kartellrechtsverstößen auch in Deutschland das Prinzip der Haftung des Gesamtunternehmens für Kartellbußgelder.Andere in jüngerer Zeit reformierte Rechtsbereiche folgen vergleichbaren Mustern. Ab dem 25. Mai 2018 gilt die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die von der neuen Bundesjustizministerin bereits als Waffe gegen Datenlecks bei Facebook ins Spiel gebracht wurde, aber in der Praxis vor allem Unternehmen der “Old Economy”, die nicht professionell mit Daten handeln, vor Schwierigkeiten stellt. Diese Verordnung nimmt in ihren Erwägungsgründen ausdrücklich Bezug auf die Regularien des EU-Kartellrechts und gestattet Bußgelder in Höhe von bis zu 4 % des weltweiten Konzernumsatzes des betroffenen Unternehmens. Ganz Ähnliches beobachtet man im Kapitalmarktrecht. Auch dort wird verstärkt das Unternehmen als Ganzes in den Blick genommen, wenn es um die Verhängung von Bußgeldern wegen Insiderrechtsverstößen und fehlerhaften Ad-hoc-Mitteilungen geht.Diese Regelungsmuster haben Vorreiterrolle und greifen auf andere Rechtsbereiche über. Schadenersatzkläger, die zum Beispiel bei Kartellrechtsverstößen inzwischen regelmäßig auf den Plan gerufen werden, tun es dem Staat nach und suchen Regress bei der mit Bußgeldern belegten Muttergesellschaft, auch wenn nur eine Tochtergesellschaft gehandelt hat. Eine jüngere Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf im Aufzugskartellfall, die gegen den neuen Zeitgeist das Prinzip der beschränkten Haftung hochhielt und der Muttergesellschaft Thyssenkrupp AG die Zuwiderhandlungen ihrer verantwortlichen Tochtergesellschaft nicht anlastete, wurde postwendend als europarechtswidrig kritisiert. Auf den ersten Blick klingt es einleuchtend. Wenn die Muttergesellschaft vom Staat bebußt wird, muss sie auch zivilrechtlich haften. In Wahrheit verschafft sich der Staat Zugriff auf das Vermögen der gesamten Unternehmensgruppe ohne Rücksicht auf beschränkte Haftung der einzelnen Gesellschaften. Im Kielwasser folgen die Zivilkläger. Und dies ist ein Trend. In allen um sich greifenden Regulierungen finden sich mittlerweile Bußgeld- und Strafandrohungen. Diese Sanktionen sollen durchgesetzt werden können, sollen spürbar sein, nicht durch Mittel der Konzernorganisation eingeschränkt werden. Die Renaissance des Straf- und Bußgeldrechts ist der Nährboden für alle Arten von Durchgriffsansprüchen gegen Mutterunternehmen. Dieser Trend wird sich beschleunigen, wenn die neue Regierungskoalition ihr Vorhaben umsetzt, “Unternehmen” stärker zu sanktionieren und die aus dem Kartellrecht bekannten Instrumente auf alle Formen von Unternehmensdelikten zu erstrecken.Hinzu treten andere Entwicklungen, die die beschränkte Haftung innerhalb von Unternehmensgruppen infrage stellen. Dazu zählt die immer weiter gefasste Compliance-Verantwortung der Unternehmensleitung. Der Vorstand oder die Geschäftsführung sind für die Unternehmensorganisation verantwortlich, was nach heutiger Auffassung die Einrichtung einer angemessenen Compliance-Organisation bis hinein in die Tochter- und Enkelgesellschaften umfasst. Was bei der Intensivierung dieser Pflichten allerdings aus dem Blick zu geraten droht, ist deren beschränkte Schutzrichtung: Es handelt sich um Pflichten, die Vorstand und Geschäftsführung zuvörderst ihrem Unternehmen schulden, im Regelfall aber nicht um allgemeine Pflichten gegenüber Dritten. Kommt es zu Verfehlungen in Tochterunternehmen ertönt heute immer lauter der Ruf, auch Außenstehenden unter Berufung auf unternehmensinterne Pflichtverstöße Schadenersatzansprüche zuzubilligen. Höhere M&A-AnforderungenRechtspolitisch muss man diese Trends hinterfragen. Das Prinzip der beschränkten Haftung ruht auf soliden ökonomischen Erkenntnissen und anerkannten Rechtsgrundsätzen. Es bedarf allenfalls in Einzelfällen des Missbrauchs einer Korrektur. Doch die Politik folgt eher den Rufen des Publikums, das in der Dieselaffäre und anderen Skandalen Haftungssanktionen gegen “die Konzerne” sehen will. Die Unternehmenspraxis wird sich darauf einrichten müssen, was vor allem eine Verstärkung der Sorgfaltsanstrengungen bei der Compliance-Organisation notwendig machen wird. Eine Enthaftung der Muttergesellschaft wird möglicherweise nur noch gelingen, wenn alles getan wurde, um Compliance-Verstöße bei Töchtern zu vermeiden. Auch bei Unternehmenskäufen wachsen die Anforderungen. Wer früher annahm, bei einem “Share Deal” (Anteilskaufvertrag) keine nennenswerten Haftungsrisiken für sein restliches Unternehmen zu begründen, muss umdenken. Ist das erworbene Unternehmen beispielsweise in einen Kartellrechtsverstoß verwickelt oder liegt dort der Datenschutz im Argen, können Haftungsrisiken das Erwerberunternehmen insgesamt infizieren. Umgekehrt wird auch der Verkäufer die einmal begründete Haftung seines Gesamtunternehmens nicht so leicht los. Die risikobegrenzende Wirkung der beschränkten Haftung jedes Rechtsträgers ist immer weniger Gewissheit. Sie lässt nach.*) Dr. Matthias Blaum und Dr. Thomas Paul sind Partner von Hengeler Mueller in Düsseldorf.