Endspurt im Aufbau der Derivate-Infrastruktur
Von Jörg Fried *)Die Finanzkrise hat außerbörslich gehandelte Derivate (auch Over-the-Counter- oder kurz OTC-Derivate) in den Fokus der Politik gerückt. Trotz der akzeptierten Anwendung dieser Verträge zur Risikoabsicherung standen Derivate in jüngster Zeit immer ganz oben auf der Tagesordnung, wenn die Verbesserung der Transparenz und der Stabilität des Finanzsystems diskutiert wurde. OTC-Derivate sind oft sehr komplex, können auch für spekulative Zwecke verwendet werden, und die Handelsvolumina sind nach wie vor sehr groß.Nach Berechnungen der Bank for International Settlements betrug das Nominalvolumen von OTC-Derivateverträgen Mitte 2011 weltweit 707 Bill. Dollar, wovon beispielsweise auf Zinsderivate 553 Bill., auf Währungsderivate 64 Bill. und auf Kreditderivate 32 Bill. Dollar entfielen. MeilensteinEin Meilenstein für die Regulierung dieses Marktes war das Treffen der G 20-Staats- und -Regierungschefs im September 2009 in Pittsburgh. Hier wurde beschlossen, dass alle standardisierten OTC-Derivate spätestens Ende 2012 über eine zentrale Gegenpartei abgewickelt werden müssen. Zentrales Regelwerk für die Umsetzung dieser Ziele in Europa ist die Verordnung über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister (European Market Infrastructure Regulation oder kurz EMIR).Schon lange vor der Veröffentlichung des ersten Entwurfs der EMIR am zweiten Jahrestag der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2010 wurde unter starker Beteiligung von Verbänden aus vielen Branchen an der Fertigstellung dieser Verordnung gearbeitet.Trotz einer medienwirksamen Verkündung von Etappenzielen wie z. B. der Zustimmung des Ecofin-Rates der europäischen Finanz- und Wirtschaftsminister am 21. Februar 2012 oder der Verabschiedung der EMIR durch das Europäische Parlament am 29. März 2012 ist dieses komplexe Großprojekt noch in Bewegung. Der Text wird derzeit sprachlich überarbeitet und seine Verkündung wird, nach nochmaliger Zustimmung des Ecofin-Rates, Mitte 2012 erwartet. EMIR wird dann 20 Tage später in Kraft treten. DetailthemenEine ganze Anzahl wichtiger Detailthemen muss aber noch in sogenannten technischen Regulierungsstandards behandelt werden. Die meisten dieser Standards hat die neu geschaffene European Securities and Markets Authority (ESMA) bis zum 30. September 2012 als Entwurf zu erstellen und der EU-Kommission vorzulegen.Derivate-Clearing über ein Clearinghaus als zentrale Gegenpartei (auch zentraler Kontrahent oder kurz CCP für Central Counterparty) soll den Parteien eines bilateralen Derivatevertrags das Risiko abnehmen, dass der Vertragspartner seine Verpflichtungen nicht mehr erfüllen kann. Dieses Kontrahentenrisiko wird dadurch minimiert, dass der zentrale Kontrahent zwischen die beiden Vertragspartner tritt.Wesentliches Strukturelement hierbei ist, dass der zentrale Kontrahent sein Risiko laufend absichert, indem er Margensicherheiten anfordert. Neben einer Grundabsicherung (Initial Margin) hat die Partei, die bei vorzeitiger Beendigung des Derivats eine Zahlung auf Basis aktueller Marktwerte schulden würde, Sicherheit in Höhe dieses Ausfallrisikos zu leisten (Variation Margin). Wesentliche Fragen, die EMIR nun zu beantworten hat, sind: Wer muss clearen, was muss gecleart werden und über welche CCPs kann gecleart werden? Weiter AnwendungsbereichDa eine Clearingpflicht Kosten und Verwaltungsaufwand mit sich bringt, war während der EMIR-Beratungen heftig umkämpft, wer überhaupt clearingpflichtig sein soll. Industrieunternehmen und viele kleinere Banken nahmen für sich beispielsweise in Anspruch, für die Krise nicht verantwortlich gewesen zu sein und Derivate immer nur in überschaubarem Umfang und zu Absicherungszwecken genutzt zu haben. Der Anwendungsbereich von EMIR wurde trotzdem weit gefasst und deckt nun alle sogenannten “finanziellen Gegenparteien” wie etwa Kreditinstitute, Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen sowie Kapitalanlagegesellschaften, unabhängig von ihrer Größe, ab. UnklarheitenEMIR gilt darüber hinaus auch für “nichtfinanzielle Gegenparteien” wie etwa Industrieunternehmen, sofern das Derivatevolumen, das nicht Absicherungszwecken dient, eine gewisse Schwelle überschreitet. Die genauen Voraussetzungen für “nichtfinanzielle Gegenparteien” sind jedoch noch unklar und sowohl der konkrete Schwellenwert als auch die nicht einfache Definition, welche Derivate nicht Absicherungszwecken dienen, wird erst aus den Entwürfen der technischen Regulierungsstandards der ESMA ersichtlich sein.Eine weitere wesentliche Frage ist, welche Produkte überhaupt einem Clearingzwang unterworfen werden. Voraussetzung für das Clearing von bilateral abgeschlossenen Geschäften ist eine absolute Standardisierung. Nur wenn ein Geschäft der vordefinierten Produktbeschreibung eines Clearinghauses entspricht, kann es über einen zentralen Kontrahenten abgewickelt werden. Die Initiative für das Clearing einer Derivatekategorie geht entweder vom Clearinghaus aus, das sich diese Kategorie von der zuständigen Aufsichtsbehörde genehmigen lässt, die dann wiederum ESMA benachrichtigt (Bottom-up-Konzept). Gleichzeitig kann auch ESMA auf eigene Initiative Derivatekategorien benennen und zum Clearing vorschlagen (Top-down-Konzept). Eine spezielle Rolle spielen bestimmte Fremdwährungsgeschäfte, für die eine Ausnahme von der Clearingpflicht angeregt wurde.Bemerkenswert ist, dass EMIR zudem Vorgaben für nicht geclearte OTC-Derivategeschäfte macht. Für diese Derivate müssen betroffene Unternehmen grundsätzlich eine tagesaktuelle Bewertung des Risikos vornehmen und es mit Margensicherheiten besichern. Obwohl für nichtfinanzielle Unternehmen diese Pflichten erst mit Überschreitung des Schwellenwertes gelten und für Transaktionen innerhalb des Konzerns Ausnahmen gelten, kann dies erhebliche Auswirkungen auf die Liquidität und das Finanzmanagement haben. ZeitdruckEin weiterer Bestandteil von EMIR sind, neben diversen Meldepflichten und der Einrichtung von Transaktionsregistern, Regelungen über die Zulassung, Organisation und Überwachung von zentralen Kontrahenten. Letzteres ist deswegen so bedeutsam, da die Pflicht, enorme Derivatevolumina über zentrale Kontrahenten zu clearen und für Positionen Margensicherheiten zu hinterlegen, zwangsläufig dazu führt, dass Clearinghäuser systemrelevant sind.Dank der konstruktiven Zusammenarbeit von Verbänden, Unternehmen und EU-Institutionen wurde viel erreicht und wesentliche Strukturen der Regulierung stehen. Trotzdem bleibt nicht mehr viel Zeit, die noch offenen Themen abzuarbeiten. In den betroffenen Unternehmen herrscht daher eine gewisse Nervosität, zumal viele der noch zu regelnden Punkte keineswegs nur technischer Natur sind und zwischen Erlass der Regelungen und ihrer Anwendung durch die Nutzer wenig Zeit liegt. Neue RegelwerkeDarüber hinaus wird EMIR durch weitere neue Regelwerke ergänzt (Mifid und Basel III), die ebenfalls kurzfristig zu beachten sein werden. Vielen Marktteilnehmern blieb und bleibt daher gar nichts anderes übrig, als sich schon jetzt auf Basis der verfügbaren Informationen auf den Umbau des Marktes vorzubereiten. Dazu gehören beispielsweise der Abschluss von Verträgen mit großen Banken, die als Clearingmitglieder bei CCPs vielen kleineren Unternehmen OTC-Clearing erst ermöglichen, eine Umstellung des Vertrags- und Risikomanagements, die Einführung oder Aktualisierung der Besicherungsmechanismen oder bei Banken die Überprüfung der Auswirkungen auf die Eigenkapitalunterlegungspflicht. Aber erst wenn der Verordnungsgeber seine Arbeit abgeschlossen hat und auch weitere ergänzende Regelwerke fertig sind, wird die Umsetzungsarbeit für die betroffenen Kreise richtig zu Ende gebracht werden können.—-*) Dr. Jörg Fried ist Counsel im Berliner Büro von Linklaters.