Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Joachim Borggräfe

"Erbschaftsteuerrecht erneut verfassungswidrig"

Nach der Reform ist vor der Reform: Familienunternehmen in der Defensive

"Erbschaftsteuerrecht erneut verfassungswidrig"

– Herr Dr. Borggräfe, seit einem Jahr ist das neue Erbschaftsteuergesetz in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte das damalige Steuerrecht für verfassungswidrig erklärt. Es beanstandete die Bewertung der Nachlassgegenstände. Sie sagen, das reformierte Recht ist wiederum verfassungswidrig. Warum?Das BVerfG hatte 2006 eine Neuregelung verlangt, weil sich die Bewertung nicht an dem Verkehrswert des Nachlasses oder einem Näherungswert dazu orientierte. Dies widersprach dem Gleichheitssatz gemäß Artikel drei des Grundgesetzes. Nun hat der Gesetzgeber die Bewertung von Betriebsvermögen erneut nicht allein am Verkehrswert orientiert.- Was sieht der Gesetzgeber vor?Es geht um Folgendes: Dem Ertragswert eines Unternehmens wird der Substanzwert oder Wiederbeschaffungswert als Mindestwert gegenübergestellt. Dieser Wert fragt nicht nach den künftigen Erträgen. Vielmehr soll der Sach-Zeitwert aller zum Einsatz kommenden Vermögensgegenstände einen Vermögens-Mindestwert für das Betriebsvermögen ergeben, der der Besteuerung zugrunde gelegt wird – wenn er höher als der Ertragswert ist.- Ein heikles Unterfangen, diese Doppel-Bewertung!Ja, wenn die Substanz eines Unternehmens – beispielsweise der Festnetzbereich der Telekom – durch Innovationen seine Ertragskraft verloren hat, zahlt der Markt nicht für die Substanz. Der Substanzwert reagiert ja auch auf keine Finanzkrise! Es ist bereits von der Bewertungsmethodik her problematisch, den Substanzwert als Näherungswert für den Verkehrswert eines Unternehmens heranzuziehen. Diese Frage scheint im Gesetzgebungsverfahren nicht erörtert worden zu sein.- Aber Börsenwert oder Gewinnmultiples eines Unternehmens reagieren auf den Markt.Das ist richtig. Der Börsenkurs zum Stichtag des Erbfalles ist entscheidend. Handelt es sich aber um ein nichtbörsennotiertes Unternehmen, ist ein Verkaufswert mittels Ertragswert – ggf. auch auf Grundlage von Umsatz- oder Gewinnmultiples – zu ermitteln. Das Problem liegt aber dort, wo dieser Wert niedriger ist als der Substanzwert. Also beispielsweise bei innovativen Familien-Unternehmen. Diese sollen aus fiskaler Sicht mindestens so viel wert sein wie die Summe der Substanzwerte ihrer – inklusive der selbst geschaffenen immateriellen – Wirtschaftsgüter wie Markenwert und Patente, die in keiner Steuer- und Handelsbilanz erfasst sind. Baut sich z. B. eine Marke wie “Jägermeister” im Laufe der Jahre auf, würden z. B. die Kosten der letzten zehn Jahre für die Substanzwertermittlung heranzuziehen sein.- Können Sie Ihre These an weiteren Beispielen veranschaulichen?Nehmen wir ein großes Familienunternehmen wie die Freudenberg GmbH & Co. KG. Wird etwa ein Freudenberg-Kommanditanteil vererbt, so ist es in der Praxis faktisch unmöglich, auf einen beliebigen Stichtag eine Vermögensaufstellung für alle immateriellen Wirtschaftsgüter aller in- und ausländischen Beteiligungs- und Joint-Venture-Gesellschaften zu erstellen.- Worum geht es noch?Wenn im Ausland eigenständig agierende Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten für den dortigen Markt unterhalten werden, wie beispielsweise bei Boehringer Ingelheim, sind frühere Forschungskosten kein Indiz für den künftigen Forschungserfolg. Hat der Unternehmenserbe, der nur einen Bruchteil eines KG-Anteils erbt (0,01 %), eine Ertrags- und eine Substanzwertermittlung auf seine Kosten in Auftrag zu geben? Ist die Gesellschaft verpflichtet, dem Unternehmenserben, der selbst keinen Zugang zu den Unternehmensdaten hat, diese zur Verfügung zu stellen? Was ist, wenn die Kosten der Doppel-Bewertung vom Erben nicht finanziert werden können, da der ererbte KG-Anteil nicht am Markt veräußert werden kann?- In dieser Situation müsste es doch Klagen gegen das neue Erbschaftsteuerrecht geben?Eine Revision gegen das neue Erbschaftsteuerrecht ist beim Bundesfinanzhof anhängig. Die Frage der Substanzwerte ist in diesem Fall jedoch nicht entscheidungserheblich. Klagen werden mit Sicherheit kommen, wenn der Gesetzgeber nicht die Reform der Reform im Sinne der Vorgaben des BVerfG vorantreibt.—-Dr. Joachim Borggräfe ist Seniorpartner von Kaye Scholer in Frankfurt. Die Fragen stellte Walther Becker.