Erst spekulativ, jetzt irrational: Neues vom verständigen Anleger
Von Andreas Merkner und Marco Sustmann*)Am Kapitalmarkt wird auf Basis von Informationen gehandelt. Die mit Blick auf das Insiderrecht und die Veröffentlichungspflicht von Emittenten entscheidende Frage ist, welche Informationen so relevant sind, dass sie rechtlich als kurserhebliche Informationen einzuordnen sind. Die Antwort der Marktmissbrauchsverordnung auf diese Frage ist jedenfalls auf den ersten Blick einfach: Kurserheblich sind all jene Informationen, die ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil seiner Anlageentscheidung nutzen würde. Nach der Verwaltungspraxis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ist dies dann der Fall, wenn ein Kauf- oder Verkaufsanreiz gegeben ist und das Geschäft dem verständigen Anleger lohnend erscheint. Gesicherte Aussagen ohne Prüfung im Einzelfall, welche Umstände preisrelevant sind, seien aber – so die BaFin – nicht möglich. Rekurs auf IKB-UrteilAus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs folgt außerdem, dass eine Information von einem verständigen Anleger auch dann genutzt werden kann, wenn diese Information es nicht erlaubt, die Änderung des Aktienkurses in eine bestimmte Richtung vorherzusehen. Grundsätzlich – so die BaFin weiter – seien daher auch solche Informationen zu berücksichtigen, die eine nur kurzfristige erhebliche Kursbewegung auslösen können, selbst wenn unklar sei, in welche Richtung der Kurs ausschlage. Und seit der jüngsten Aktualisierung ihrer Frequently Asked Questions (FAQ) zur Ad-hoc-Publizität vertritt die BaFin die Rechtsauffassung, dass ein verständiger Anleger auch dann rational handle, wenn er bei der Bewertung der Kursrelevanz irrationales Anlegerverhalten berücksichtige. Abgeleitet wird dies offensichtlich aus dem sogenannten IKB-Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2011 – eine Einzelfallentscheidung, die im Kontext der Subprime-Krise ergangen ist. Dies bedeute aber – so die BaFin – nicht, dass der verständige Anleger sein Verhalten bei jedem Umstand oder Ereignis ausschließlich nach spekulativen Gesichtspunkten ausrichte, sondern lediglich, dass er diesen Umstand, wie auch alle anderen, in seine Bewertung mit einfließen lasse, sofern er dies erwarten und abschätzen könne.Ein verständiger Anleger soll also irrationales Marktverhalten Dritter abschätzen. In der Rechtspraxis führt dies zu einer bedenklichen Ausweitung des Merkmals der Kursrelevanz, das für die Beurteilung der Strafbarkeit bzw. für die Verhängung von Bußgeldern maßgeblich ist, die je nach Größe des Konzerns zumindest theoretisch in den Milliardenbereich gehen können. Diese Ausweitung hat keine Grundlage in der Marktmissbrauchsverordnung und ist rechtsstaatlich bedenklich. Für den Rechtsanwender ist mit hinreichender Sicherheit kaum noch bestimmbar, wann eine Insiderinformation mit allen daraus folgenden Konsequenzen vorliegt. Außerdem ist die Argumentation der BaFin zirkulär. Denn die Kursrelevanz ist ein normatives Tatbestandsmerkmal, das durch den “verständigen Anleger” eingegrenzt werden soll (Filterfunktion). Zu postulieren, dass ein verständiger Anleger bei der Bewertung der Kursrelevanz “irrationales Anlegerverhalten” berücksichtigt, macht aus dem verständigen Anleger einen auf kurzfristige Spekulationsgewinne ausgerichteten Trader. Denn kurzfristige und irrationale Marktbewegungen sind fundamental nicht begründet. Aus der Perspektive des Emittenten bedeutet dies, dass der Vorstand eine Information gegebenenfalls nur deshalb im Wege der Ad-hoc-Mitteilung veröffentlichen muss, weil er nicht ausschließen kann, dass kurzfristig orientierte Kapitalmarktteilnehmer auf diese Information reagieren werden, obwohl die Information fundamental für das Unternehmen – etwa aufgrund unwesentlicher Ergebnisauswirkung – nicht relevant ist. Eine so verstandene Ad-hoc-Publizität birgt die Gefahr einer Self-fulfilling Prophecy und damit im schlimmsten Fall einer nicht gerechtfertigten Wertvernichtung mit gravierenden Folgen für das Unternehmen. Vertrauen in die MarktkräfteDie neuerlichen Ergänzungen in den FAQ dienen schließlich auch nicht dem Schutzzweck des Kapitalmarkts. Effiziente Märkte gleichen kurzfristige irrationale Kursausschläge ebenso kurzfristig wieder aus. Eine Situation, in der Emittenten letztlich von irrational agierenden Marktteilnehmern in die Ad-hoc-Publizitätspflicht “getrieben” werden, ist nicht wünschenswert. Eine Refokussierung auf fundamental wertrelevante Informationen ist dringend angebracht, wenn nicht der Boden für eine kapitalmarktrechtliche Klageindustrie bereitet werden soll. Ziel muss es sein, dass zukünftig jedenfalls annähernd gesicherte Aussagen möglich bleiben, welche Umstände preisrelevant sind. Von diesem Ziel hat sich die BaFin durch die letzte Ergänzung der FAQ erneut entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass die Diskussion im Zuge der angekündigten Neufassung des Emittentenleitfadens noch einmal aufgenommen wird und die BaFin von der stetigen Ausweitung des Kreises potenzieller Insiderinformationen Abstand nimmt. —-*) Dr. Andreas Merkner und Dr. Marco Sustmann sind Partner von Glade Michel Wirtz.