Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Michael Walther

"Es wird nicht weniger Fusionsverbote geben"

Auch nach dem Urteil im Fall Schneider/Legrand ist Schwelle für Schadenersatzanspruch hoch

"Es wird nicht weniger Fusionsverbote geben"

Der Europäischen Kommission droht erstmals die Zahlung einer Entschädigung wegen irregulärer Untersagung einer Fusion. Das EU-Gericht erster Instanz folgte in Teilen der Klage des französischen Elektronikkonzerns Schneider, der Schadenersatz in Milliardenhöhe wegen des gescheiterten Zusammenschlusses mit dem nationalen Konkurrenten Legrand fordert (vgl. BZ vom 12. Juli) – Herr Walther, ist nun mit einer Flut von Schadenersatzansprüchen zu rechnen? Kaum – es werden ja nur wenige Fusionen von der Kommission untersagt. Und selbst wenn die Kommission eine Fusion zu Unrecht untersagt hat, liegt die Schwelle für einen Schadenersatzanspruch sehr hoch. Im Fall von Schneider/Legrand ging es um eine eklatante Rechtsverletzung: Die Kommission hatte den in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör verletzt. – Wann hat denn ein Unternehmen überhaupt Anspruch auf Schadenersatz? Voraussetzung ist zunächst einmal nur, dass die Kommission gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, dass ein Schaden entstanden ist und dass dieser Schaden durch das rechtswidrige Handeln der Kommission kausal verursacht wurde. Nicht jeder Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht reicht für einen Schadenersatzanspruch aus. Vielmehr muss die Kommission die Grenzen, die ihrem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten haben. Damit wollen die europäischen Gerichte der Komplexität des Sachverhalts, den Schwierigkeiten bei der Anwendung und Interpretation der maßgeblichen Vorschriften und dem Beurteilungsspielraum der Kommission Rechnung tragen. – Wie hoch kann der Schadenersatz bemessen sein? Schneider hatte insgesamt 1,67 Mrd. Euro eingeklagt. Nach gegenwärtiger Einschätzung wird das Unternehmen davon immerhin etwa 400 Mill. Euro zugesprochen bekommen. Nicht ersetzt wird laut Urteil der Kursverlust der Schneider-Aktien nach Bekanntwerden des Fusionsverbots. Wohl aber die Kosten für die erneute Durchführung des Fusionskontrollverfahrens und zwei Drittel des Verlusts, den Schneider bei dem von der Kommission zu Unrecht verlangten Wiederverkauf der Legrand-Anteile erlitten hat. Diesen Wiederverkaufsschaden kann es allerdings nur bei öffentlichen Übernahmeangeboten geben. Nur dann nämlich darf der Ankauf der Anteile bereits vor Genehmigung durch die Kommission vollzogen werden. – Welche Besonderheiten hat dieser Fall gerade auch im Vergleich mit dem bereits anhängigen Fall MyTravel/First Choice?Bei Schneider/Legrand ging es in erster Linie um die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, also um die Verletzung eines fundamentalen rechtsstaatlichen Verfahrensprinzips. Beim bereits anhängigen MyTravel/First-Choice-Verfahren geht es um Irrtümer bei der Feststellung der Marktbeherrschung, also um Fehler bei der materiellen Rechtsanwendung. Außerdem werden andere Schäden geltend gemacht, nämlich die Kosten des Übernahmeangebots, der Entgang des Gewinns von First Choice und entgangene Synergiegewinne. – Sind nur bei formalen Verstößen Schadenersatzansprüche möglich oder auch bei materiell-rechtlichen? Grundsätzlich auch bei materiell-rechtlichen Verstößen. Das EU-Gericht hat im Schneider/Legrand-Urteil allerdings noch einmal auf den Ermessensspielraum der Kommission in materiell-rechtlichen Fragen hingewiesen. Das MyTravel-Verfahren wird klären, wie weit dieser Spielraum geht. – Übertragen auf die Situation in Deutschland: sind nach Schneider/Legrand auch Schadenersatzansprüche gegen das Bundeskartellamt möglich? In der Theorie ist das durchaus möglich, in der Praxis schwer vorstellbar. Nach deutschem Recht haftet der Staat nur bei Verschulden des handelnden Beamten. Unrichtige Gesetzesanwendung ist aber nicht schuldhaft, solange der Beamte nach gewissenhafter Prüfung zu einem auf vernünftige Überlegungen gestützten Ergebnis kommt und sich nicht in Widerspruch zur BGH-Rechtsprechung setzt. Diese Grenzen werden wohl selbst bei fehlerhaften Fusionskontrollentscheidungen selten überschritten werden. – Sind nun Positionsänderungen der EU-Kommission in Fusionskontrollverfahren in Sicht?Es wird nicht weniger Fusionsverbote geben. Die Kommission wird aber genauer darauf achten müssen, die Verfahrensrechte der Parteien zu wahren. Die Kommission hat behauptet, dass ihr solche Fehler wie bei Schneider/Legrand nicht mehr passieren würden. Aber es gibt auch heute offenbar noch Mängel in der Kommunikation der Kommission. Aus dem Microsoft-Verfahren sind Beschwerden von Microsoft darüber bekannt, dass sich Analysen und Anforderungen der Kommission immer wieder überraschend ändern. Unabhängig von diesem Einzelfall zwingt das Urteil die Kommission zur besseren Beteiligung der Parteien am Verfahren.Michael Walther ist Partner und Kartellrechtsexperte im Münchner Büro der internationalen Anwaltskanzlei Gibson, Dunn & Crutcher LLP. Die Fragen stellte Walther Becker.