EU-weite Regulierung zu Lieferketten wird immer wahrscheinlicher
Herr Scherb, Frau Dr. Vesper-Gräske, in der Schweiz hat sich die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative im Referendum nicht durchgesetzt. Was heißt das für Schweizer Firmen?Scherb: Für Schweizer Unternehmen bedeutet das zunächst, dass keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für eine direkte zivilrechtliche Haftung von Schweizer Mutterkonzernen eingeführt wird, wodurch sie bei Nichteinhaltung ihrer Sorgfaltspflichten für Menschenrechtsverstöße – hervorgerufen durch ihre Tochtergesellschaften oder Geschäftspartner, auch im Ausland, – verantwortlich gemacht werden könnten. Also keine Klagen im Mutterland.Vesper-Gräske: Gewiss ist aber auch, dass Schweizer Konzerne mit Tochtergesellschaften im Ausland die dort bereits existierenden Gesetze zur menschenrechtlichen Sorgfalt einzuhalten haben. Zum Teil sind solche Vorgaben nur auf bestimmte Menschenrechte bezogen – wie in Großbritannien beispielsweise (moderne Sklaverei) oder den Niederlanden (Kinderarbeit). In anderen Jurisdiktionen wie Frankreich ist hingegen die Einhaltung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten umfassend normiert. Durchgesetzt hat sich der indirekte Gegenvorschlag des Schweizer Parlaments gegen die Konzernverantwortungsinitiative. Wie verhält sich das in der bestehenden Rechtslage in der EU?Scherb: Man muss bedenken, dass die Schweiz sehr von dem gemeinsamen Binnenmarkt der EU profitiert. Entsprechend kann sie sich nicht gegenüber den aktuellen rechtlichen Entwicklungen auf Unionsebene verschließen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass der parlamentarische Gesetzgeber in der Schweiz mit seinem Gegenvorschlag einen Blick über die eigene Landesgrenze gewagt hat. Wie weit geht das?Scherb: Die im Gegenvorschlag angelegten Berichtspflichten für Schweizer Unternehmen sind angelehnt an die EU-Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung (“CSR-Richtlinie”) aus 2014; die aufgeführten Sorgfaltspflichten für Unternehmen, die mit Konfliktmineralien (“3TG”) handeln, orientieren sich hingegen an der EU-Konfliktmineralien-Verordnung, die zum 1. Januar 2021 in Kraft treten wird. Dabei zeigt sich gleichfalls, dass gegenwärtig der Schweizer Gesetzgeber den europäischen Regelungen hinterherhinkt. Ein Blick in die Zukunft zeigt zudem, dass die nunmehr angekündigte EU-Richtlinie zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten, wie auch nationale Gesetzesinitiativen (unter anderem auch in Deutschland), in diesem Bereich bald neue Maßstäbe für Unternehmen setzen dürften. Welche Auswirkungen wird eine anstehende EU-Richtlinie zur Regelung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der Liefer- und Wertschöpfungskette für Schweizer Konzerne haben?Vesper-Gräske: Die erste Ausarbeitung einer EU-Richtlinie, die vom Europäischen Parlament vor Kurzem der Europäischen Kommission vorgelegt wurde, sieht einen sehr weiten Anwendungsbereich vor. Hiernach wären nicht nur Unternehmen erfasst, die unter das Recht eines Mitgliedstaats der EU fallen oder in der Union niedergelassen sind, sondern auch solche, die dem Recht eines Drittstaats unterliegen und den europäischen Binnenmarkt nutzen. Im Grundsatz müssten also auch Schweizer Unternehmen, wenn sie in der EU geschäftstätig sind, die geplanten menschenrechtlichen Compliance-/Sorgfaltspflichten einhalten. Das heißt?Vesper-Gräske: Insofern empfiehlt es sich, die verbleibende Zeit bis zum Abschluss des Gesetzgebungsprozesses zu nutzen, um die Effizienz der eigenen Compliance-Systeme zu überprüfen und bereits Schnittstellen für die Integration von Menschenrechts-Compliance zu ermitteln. Denn wie zu vernehmen ist, wird eine EU-weite Regulierung immer wahrscheinlicher. Erst vor Kurzem hat sich auch der Rat der Europäischen Union geschlossen hinter die Ausarbeitung einer EU-Richtlinie gestellt. Marius Scherb und Dr. Marlen Vesper-Gräske sind Rechtsanwälte bei Freshfields Bruckhaus Deringer. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.