Europäisches Übernahmerecht in Bewegung
Von Christoph H. Seibt *)Die Europäische Kommission hat am 28. Juni einen Bericht über die Anwendung der Übernahmerichtlinie von 2004 sowie eine in ihrem Auftrag angefertigte, knapp 400 Seiten lange externe Studie veröffentlicht. Der Kommissionsbericht schlägt einige Maßnahmen zur weiteren Harmonisierung des europäischen Übernahmerechts vor, die allerdings aus realpolitischer Einsicht sämtlich unterhalb der Grenze einer formalen Änderung der EU-Übernahmerichtlinie bleiben.Diese Richtlinie enthält eine Revisionsklausel. Danach muss die Kommission die Richtlinie fünf Jahre nach der Umsetzungsfrist auf der Grundlage der bei ihrer Anwendung gewonnenen Erfahrungen überprüfen und erforderlichenfalls Änderungen vorschlagen. Ein Arbeitspapier aus der Kommission zur Richtlinienumsetzung von 2007 kam mit resignativem Ton noch zu dem Ergebnis, dass überraschend viele Mitgliedstaaten die Richtlinie protektionistisch und zieladvers umgesetzt hätten und daher eine Revision nach 2011 erforderlich sein mag. Vor diesem Hintergrund hatte die Kommission einen externen Studienauftrag vergeben, um die Rechtslage zu analysieren und Marktteilnehmer zu Übernahmepraktiken und -hindernissen zu befragen. Kein strukturelles ProblemDer Kommissionsbericht selbst umfasst nur 15 Seiten mit 28 Textziffern, gegliedert in vier Abschnitte. Zu den Studienerkenntnissen zur Einhaltung und zu den Auswirkungen der Übernahmerichtlinie hält der Bericht fest, dass kein strukturelles Einhaltungsproblem in den Mitgliedstaaten bei der Anwendung des durch die Richtlinie vorgegebenen Rechtsrahmens bestehe. Die Richtlinie habe mit Blick auf ihre Ziele (Gleichbehandlung und Gewährung einer ausreichenden Informationslage für die Aktionäre der Zielgesellschaft; Schutz von Minderheitsaktionären im Fall eines Kontrollwechsels; Verbot von Marktmanipulation und Marktmissbrauch) zu Verbesserungen geführt. Die befragten Marktteilnehmer betrachteten die Richtlinie als nützlich für das ordnungsgemäße und effiziente Funktionieren des Kapitalmarkts und sind im Allgemeinen mit der Klarheit und dem materiellen Inhalt der Richtlinienregeln zufrieden.Da die Richtlinie nur ein Instrument der Mindestharmonisierung ist und es seit 2006 nur eine geringe Zahl von Übernahmeangeboten gab, könnten eindeutige wirtschaftliche Effekte aus der Umsetzung der Übernahmerichtlinie nicht ermittelt werden. Die Annahme, Übernahmeangebote dienten der wirtschaftlichen Effizienz, könne in der Praxis nicht immer bestätigt werden, da die Voraussetzungen rationalen Verhaltens und umfassend unterrichteter Marktteilnehmer nicht erfüllt seien und Transaktionskosten anfielen. Der Vergleich mit wesentlichen Drittstaaten zeige, dass die dortigen Rechtsvorschriften für Übernahmeangebote – mit Ausnahme der USA – auf ähnlichen Grundsätzen wie die Übernahmerichtlinie aufbauen. Die in der externen Studie untersuchten Kontrollstrukturen und Übernahmehindernisse, die nicht von der Richtlinie erfasst werden, insbesondere Pyramidenstrukturen und wechselseitige Beteiligungen, aber auch sektorspezifische Vorschriften sowie die Unternehmensmitbestimmung, stellten keine signifikanten Behinderungen von Übernahmen dar.Vor diesem allgemeinen Hintergrund beleuchtet der Kommissionsbericht im dritten und vierten Abschnitt fünf Regelungsbereiche, “in denen eine Präzisierung der Richtlinienbestimmungen angezeigt wäre, um die Rechtssicherheit für die Betroffenen und die effektive Ausübung der Rechte von (Minderheits-)Aktionären zu verbessern”.1.: Das Konzept des gemeinsamen Handelns (Acting in Concert) ist in den Mitgliedstaaten uneinheitlich umgesetzt, teilweise bestehen Schutzlücken und teilweise wird andererseits wegen der Konzeptweite für die Binnenkontrolle der Unternehmensorgane wichtige Aktionärskommunikation unterbunden. Als Harmonisierungsinstrument schlägt die Kommission die Entwicklung von Leitlinien durch sie selbst oder die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) vor. Eine Konkretisierung ihrer Vorschläge kündigt die Kommission für Oktober 2012 im Company Law Action Plan an. Ausnahmen die Regel2.: Die Mitgliedstaaten haben eine Vielzahl von Ausnahmesachverhalten zum Pflichtangebot geregelt; die externe Studie zählt 36 Kategorien auf. Es ist für die Kommission derzeit nicht in allen Fällen klar, ob bei Anwendung der nationalstaatlichen Ausnahmevorschriften der Schutz von Minderheitsaktionären gewährleistet ist. Die Kommission kündigt für den Fall, dass die Interessen von Minderheitsaktionären in einzelnen Jurisdiktionen (ggf. auch Deutschland) bei Angebotsbefreiungen nicht angemessen berücksichtigt werden, an, z. B. im Wege von Vertragsverletzungsverfahren den Bestand an Ausnahmetatbeständen zu reduzieren.3.: Die Kommission hält die sanktionslose Zulassung von Low-Balling- oder Creeping-in-Kontrollübernahmen für nicht im Einklang mit dem Ziel der Übernahmerichtlinie, Minderheitsaktionäre bei Kontrollwechseln zu schützen und ihnen ein angemessenes Exit-Recht mit Teilnahme an einer Kontrollprämie zu geben. Es handelt sich um solche Angebotsstrukturen, bei denen der Angebotspreis keine oder nur eine geringe Übernahmeprämie enthält, der Bieter trotz des unattraktiven Angebots die Kontrollschwelle durch bestimmte Strukturen (z. B. Nutzung von Finanzinstrumenten) überwinden kann, allerdings absichtsvoll zur Schonung finanzieller Ressourcen weniger als 50 % der Stimmrechte erwirbt. In der Studie wird hierzu auf die Übernahme von Hochtief durch ACS und auf das “significant loophole” bzw. “lack of appropriate regulation” in Deutschland verwiesen.Die Kommission betont, dass diese Praktiken an sich durch nationale Rechtsvorschriften wie zusätzliche Schwellenwerte für Pflichtangebote oder Mindestbedingungen zur Akzeptanz von Übernahmeangeboten (z. B. Großbritannien, Frankreich) unterbunden werden können. Sie kündigt an, “geeignete Schritte zu ergreifen, um entsprechenden Praktiken in der EU Einhalt zu gebieten, etwa im Wege bilateraler Diskussionen mit den betroffenen Mitgliedstaaten oder durch Empfehlungen der Kommission”. Es ist zu erwarten, dass die Diskussionen im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages über die Ergänzung des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) zur Regelung von Creeping-in-Fällen wieder aufgenommen werden.4.: Die Kommission sieht davon ab, eine weitere Harmonisierung beim sogenannten Neutralitätsgebot der Verwaltungsorgane der Zielgesellschaft zu verfolgen. Dabei verweist sie auf die Marktumfrage, der zufolge sich aus der fehlenden Harmonisierung keine signifikanten Übernahmehindernisse ergeben haben, sowie auf das Fehlen eindeutiger ökonomischer Analysen über die Wirkung des Handlungsspielraums des Zielmanagements.5.: Im Hinblick auf von Arbeitnehmervertretern geltend gemachte Schutzlücken zulasten von Arbeitnehmern im Fall von Kontrollwechseln kündigt die Kommission an, “ihren Dialog mit den Arbeitnehmervertretern fortsetzen, um Möglichkeiten für künftige Verbesserungen auszuloten”. Konkrete Regelungsänderungen sind hier nicht zu erwarten.Keinen Eingang in den Kommissionsbericht haben – wohl vor allem zur Vermeidung einer formellen Richtlinienänderung – die laut Studie besonders harmonisierungsbedürftigen Fragen gefunden: Schutz von Minderheitsaktionären vor kalten Übernahmen (Beteiligungserwerb knapp unter der Kontrollschwelle); Konkretisierung der Squeeze-out-Regelungen; prospektähnliche Harmonisierung der Angebotsunterlage und der Stellungnahme der Zielgesellschaft; Vereinheitlichung der Überwachungs- und Sanktionsrechte der Behörden. Stellungnahmen erwünschtMitgliedstaaten, Europäisches Parlament sowie Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss sind nun aufgefordert, zu den Schlussfolgerungen des Berichtes Stellung zu nehmen; andere Parteien können bis Anfang September Stellungnahmen bei der Generaldirektion Markt einreichen. Ein formelles Konsultationsverfahren ist ebenso wenig geplant wie die Erstellung eines Grünbuchs. Es ist davon auszugehen, dass die Vorschläge der Kommission ohne erhebliche Änderungen in den nächsten 24 Monaten umgesetzt werden und sich die Diskussion über die Fortentwicklung des deutschen Übernahmerechts intensivieren wird.—-*) Prof. Dr. Christoph Seibt ist Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer und Honorarprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg.