RECHT UND KAPITALMARKT

Fiskus drohen Steuerausfälle in Milliardenhöhe

Bundesfinanzhof zweifelt an Konformität der umsatzsteuerlichen Behandlung verbundener Unternehmen mit EU-Recht

Fiskus drohen Steuerausfälle in Milliardenhöhe

Von Jens-Uwe Hinder und Jenny Broekmann *)Gleich zwei Senate des Bundesfinanzhofs (BFH) haben dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob die seit Jahrzehnten in Deutschland bestehende umsatzsteuerliche Behandlung verbundener Unternehmen (sogenannte “umsatzsteuerliche Organschaft”) gegen das Unionsrecht verstößt.Abhängig davon, wie der EuGH diese Frage beantworten wird, ergeben sich erhebliche Konsequenzen für das deutsche Steuerrecht. Dem Fiskus drohen Steuerausfälle in Milliardenhöhe.Der Bundesfinanzhof hat dem EuGH in zwei Verfahren die Frage vorgelegt, ob das nationale Umsatzsteuerrecht derzeit in bestimmten Fällen überhaupt den “richtigen” Steuerpflichtigen zur Besteuerung heranzieht (Az. beim BFH: XI R 16/18 und V R 40/19; Az. beim EuGH: C-141/20 und C-269/20).Konkret geht es um Fälle der sogenannten umsatzsteuerlichen Organschaft: Diese liegt vor, wenn ein Unternehmen (“Organgesellschaft”) in ein anderes Unternehmen (“Organträger”) finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch eingegliedert ist. Die in einer solcherart umsatzsteuerlichen Organschaft verbundenen Unternehmen werden für Zwecke der Umsatzsteuer als ein Unternehmen behandelt. Dies macht das Konstrukt für verbundene Unternehmen so attraktiv. Denn solche Umsätze, die zwischen dem Organträger und seinen Organgesellschaften erfolgen (zum Beispiel aus Liefer- oder Serviceverträgen), werden als reine Innenumsätze behandelt. Sie unterliegen, anders als bei fremden Dritten, nicht der Umsatzsteuer.Einziger Steuerpflichtiger der Organschaft ist nach den seit Jahrzehnten geltenden nationalen Regelungen der Organträger, der als solcher Steuerschuldner für alle Umsätze ist, die er oder eine der ihm eingegliederten Organgesellschaften mit außerhalb der Organschaft stehenden Unternehmen durchführen. Dementsprechend muss allein der Organträger für die gesamte Organschaft umsatzsteuerliche Voranmeldungen beziehungsweise Jahreserklärungen abgeben. Die Organgesellschaften haften lediglich nachrangig.Der BFH hat nun Zweifel, ob es aus unionsrechtlicher Sicht richtig ist, den Organträger als Steuerpflichtigen zu bestimmen und zur Umsatzsteuer heranzuziehen oder ob stattdessen eine übergeordnete Gesamtheit (“Mehrwertsteuergruppe”) verantwortlich sein müsse. Für eine solche gibt es in Deutschland jedoch keine Regelungen. Überraschender Vorstoß Die nationalen Regelungen zur Umsatzsteuer und somit auch zur umsatzsteuerlichen Organschaft müssen mit dem Unionsrecht vereinbar sein, insbesondere mit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie des Rates der Europäischen Union vom 28.11.2006. Diese dient dazu, die Vorschriften der einzelnen EU-Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer weitestgehend zu harmonisieren. Den Mitgliedstaaten wird durch die Richtlinie ein enger Rahmen vorgegeben, was geregelt werden darf.Bei Zweifeln über die Rechtsauslegung und etwaigen Differenzen zwischen dem nationalen und dem Unionsrecht muss daher der EuGH entscheiden.Solche Zweifel sind dem BFH bei einer sehr stark am Wortlaut orientierten Analyse der EuGH-Rechtsprechung zur umsatzsteuerlichen Organschaft gekommen. Dementsprechend hat sich zunächst der XI. Senat im Dezember 2019 an den EuGH gewandt. Dies kam insofern einigermaßen überraschend, da sich der vom XI. Senat befürchtete Unionsrechtsverstoß keinesfalls aufdrängt.Der V. Senat folgte im Mai 2020, allerdings weniger, um die Zweifel des XI. Senats zu vertiefen, als um die Gelegenheit zu nutzen, dem EuGH die Brisanz dieser Thematik aufzuzeigen. Dabei lässt er vergleichsweise unverhohlen erkennen, dass er für die Vorlagefrage des XI. Senats wenig Verständnis hat.Mit den Vorlagefragen der beiden Senate soll der EuGH klären, wer als steuerpflichtiger Unternehmer einer umsatzsteuerlichen Organschaft anzusehen ist. Insbesondere soll der EuGH beantworten, ob es das Unionsrecht erlaube, den Organträger, also ein Mitglied der Organschaft, als Steuerpflichtigen zu bestimmen oder ob dies mit unionsrechtlichen Vorgaben unvereinbar ist und zwingend eine im deutschen Recht bislang unbekannte “Mehrwertsteuergruppe” als Steuerschuldnerin angesehen werden müsse.Sollte der EuGH zu dem Ergebnis gelangen, dass die in Deutschland vorgesehene Besteuerung des Organträgers nicht dem Unionsrecht entspricht, dann hätte dies erhebliche fiskalische Folgen. Denn bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber würde es dem deutschen Fiskus, wie der V. Senat dem EuGH in seinem Vorlagebeschluss in aller Deutlichkeit aufzeigt, in allen Organschaftsfällen an einem Steuerpflichtigen fehlen: Sämtliche Organträger als unionsrechtlich “falsche” Steuerpflichtige könnten ihrer Besteuerung entgehen, indem sie sich auf die Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Vorschriften berufen. Die Mehrwertsteuergruppe als unionsrechtlich “richtige” Steuerpflichtige könnte vom Fiskus dagegen nicht (rechtzeitig) herangezogen werden, da es für diese keine gesetzlichen Regelungen gibt. Und die Organgesellschaften wären bereits nach nationaler Rechtslage nicht steuerpflichtig und könnten sich weiterhin auf die Fortgeltung dieses Rechts berufen.Da Organträger derzeit rund 10 % des gesamten Steueraufkommens aus der Umsatzsteuer in Deutschland aufbringen, würde eine solche Entscheidung des EuGH massive Steuerausfälle für den deutschen Fiskus bedeuten. Allein für das Haushaltsjahr 2018 ergäbe sich ein Steuerausfall von rund 23,48 Mrd. Euro; für 2019 sogar 24,33 Mrd. Euro. Keine rasche EntscheidungWelche Antwort der EuGH dem BFH geben wird, ist offen. Da jedenfalls der Wortlaut der Richtlinie zu der in Rede stehenden Frage des Steuerpflichtigen einer Organschaft schweigt, sprechen bereits gewichtige Gründe dafür, dass die Besteuerung des Organträgers auch unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten weiterhin Bestand haben dürfte. Zumal die Richtlinie nicht einmal den Begriff der “Mehrwertsteuergruppe” kennt. Diese Terminologie ist zwar in der EuGH-Rechtsprechung mehrfach verwendet worden, letztlich aber auf Ausführungen der EU-Kommission zurückzuführen. Auch der Zweck der Vorschrift gebietet es im Ergebnis nicht, die erforderliche Bündelung der umsatzsteuerlichen Pflichten bei einer spezifischen, übergeordneten Einrichtung (Mehrwertsteuergruppe) vorzunehmen, statt bei einem ihrer Mitglieder (Organträger).Mit einer kurzfristigen Entscheidung des EuGH ist nicht zu rechnen. Gegebenenfalls wird es einige Jahre dauern, bis der EuGH insoweit Klarheit schafft.Für den Fiskus wächst der Umfang des Steuerausfallrisikos mit jedem Jahr, in der die Rechtsfrage nicht geklärt ist. Insofern hat der Gesetzgeber ein eigenes großes Interesse daran, in der Zwischenzeit selbst aktiv zu werden und neue gesetzliche Regelungen zu schaffen; dies umso mehr als seit Längerem Diskussionen zu einer Reform der umsatzsteuerlichen Organschaft geführt werden. Bereits im März 2019 hatte das Bundesfinanzministerium ein Eckpunktepapier vorgelegt und eine Gruppenbesteuerung mit Antragsverfahren vorgeschlagen, welche die jeweiligen Gruppenmitglieder dem Umsatzsteuerregime einer Umsatzsteuergruppe unterwirft. Bescheide offenhaltenBis zu einer Entscheidung des EuGH sollten Organträger umsatzsteuerlicher Organschaften die entsprechenden Umsatzsteuerbescheide offenhalten. Eine Aussetzung der Vollziehung ist jedoch mit Blick auf die Aussetzungszinsen in Höhe von 6% pro Jahr nicht anzuraten. Die Steuer sollte daher erst einmal gezahlt werden. Die gesetzgeberischen Entwicklungen und der weitere Gang des Verfahrens vor dem EuGH sollten zudem im Blick behalten werden.Die Entscheidung des EuGH und deren Auswirkungen auf das deutsche System der umsatzsteuerlichen Organschaft sind mit Spannung zu erwarten, zumal (böse) Überraschungen für den Fiskus und nationalen Gesetzgeber jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen sein dürften. *) Dr. Jens-Uwe Hinder ist Partner, Dr. Jenny Broekmann, Senior Associate in der Praxisgruppe Steuern von Morrison & Foerster in Berlin.