Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Sven Schelo

"Flucht ins englische Insolvenzrecht könnte Schule machen"

Flexibleres Umfeld - Freie Wahl des Insolvenzverwalters

"Flucht ins englische Insolvenzrecht könnte Schule machen"

– Deutsche Nickel, Brochier und möglicherweise Schefenacker sind Firmen, die ihren Sitz nach England verlegt haben oder verlegen wollen, um dort Insolvenzverfahren durchzuführen. Herr Dr. Schelo, warum flüchten Unternehmen aus dem Insolvenzstandort Deutschland?Das englische Insolvenzrecht ist in mancher Hinsicht flexibler und planbarer als das deutsche. Gläubiger können sich ihren Insolvenzverwalter selber aussuchen und mit ihm die geplanten Sanierungsschritte vorher absprechen. Auch ist ein Debt-to-Equity-Swap, also der Tausch von Forderungen gegen Anteile an dem insolventen Unternehmen, einfacher. Außerdem bietet das englische Insolvenzrecht eine Bandbreite von Verfahren an, die eine Restrukturierung auch ohne volles Insolvenzverfahren ermöglichen. Schließlich kennt das englische Recht auch keine strikten Insolvenzantragspflichten, wie wir sie kennen. – Ist es einfach so möglich, den Sitz nach England zu verlegen?In Deutschland geht dies derzeit nur durch eine Umwandlung des Rechtsträgers in eine englische Gesellschaft, also eine plc oder Limited. Dazu wird z. B. das Unternehmen in eine GmbH & Co. KG umgewandelt, dann tritt eine Ltd. oder auch plc bei, und die deutschen Partner der GmbH & Co. KG scheiden aus. Das Vermögen wächst dann automatisch bei der Ltd. bzw. plc an. Künftig wird dies durch die EG-Richtlinien zur grenzüberschreitenden Verschmelzung und Sitzverlegung noch einfacher. Allerdings ist mit dieser Umwandlung noch nicht unbedingt gesagt, dass auch englisches Insolvenzrecht zur Anwendung kommt. – Wonach richtet sich das? Entscheidend ist der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen (COMI, Centre of Main Interests). Er liegt in der Regel dort, wo das Unternehmen seinen satzungsmäßigen Sitz hat. Bei einer Ltd. oder plc ist das in England. Allerdings kann diese Vermutung auch widerlegt werden, z. B. wenn das Unternehmen nur eine bloße Briefkastenfirma ist und die Geschäftsführung und das operatives Geschäft in Deutschland sitzen. Allein die Umwandlung in eine englische Gesellschaft reicht dann nicht aus. Auch im aktuellen Fall des deutschen Anlagenbauers Brochier haben deutsche und englische Gerichte trotz Formwechsels deutsches Insolvenzrecht angewendet. Bei reinen Holdingunternehmen, wie sie typischerweise bei fremdfinanzierten Unternehmensübernahmen, also den LBO, an der Konzernspitze stehen, dürfte allerdings die Verlagerung des COMI eher unproblematisch sein. – Müssen nicht insbesondere die Gläubiger zustimmen, wenn ein Unternehmen seinen Sitz kurz vor der Insolvenz verlegt? Die Gläubiger müssen nur dann zustimmen, wenn Verträge, z. B. Kreditverträge, dies vorsehen. Allerdings dürfte sich in vielen Fällen praktisch diese Frage nicht stellen, da die Sitzverlegung gerade von den Gläubigern mitbetrieben wird. Sie profitieren ja auch von den strukturellen Vorteilen des englischen Insolvenzrechts. – Die Verlegung des Unternehmens ist ein aufwendiger Prozess, wann lohnt er sich?Die Verlegung kann eine Option sein, wenn eine einvernehmliche Restrukturierung scheitert. Bei internationalen mehrstufigen LBO-Strukturen ist derzeit eine Sanierungstrias gängige Praxis, aus Debt-to-Equity-Swap, der Refinanzierung, also der Ablösung bestehender durch neue Bankdarlehen, sowie dem Verzicht auf nachrangige Forderungen. Hierdurch werden die ungesicherten Gläubiger Eigentümer des Unternehmens, und es wird entschuldet. Allerdings scheitert eine solche Sanierung dann, wenn der Alteigentümer dem Debt-to-Equity-Swap oder die Gläubiger dem Forderungsverzicht nicht zustimmen. Dann kann ein Insolvenzverfahren Möglichkeiten bieten, auch gegen den Willen einzelner Beteiligter solche Restrukturierungsmaßnahmen durchzuführen. Im US-Recht heißt das Cram-Down. – Geht das auch in Deutschland? Im deutschen Insolvenzrecht gibt es über den Insolvenzplan auch die Möglichkeit des Cram-Down. Allerdings ist dieses Instrument derzeit noch relativ unerprobt und auch unkalkulierbar, nicht zuletzt weil allein das Gericht bestimmt, wer Insolvenzverwalter wird. Die Gläubiger oder auch das Unternehmen können also nicht wirklich planen. – Wird jetzt eine Insolvenzflucht nach England einsetzten ?Die Gefahr besteht – jedenfalls bei Unternehmen mit einer bestimmten Gläubiger- und Kapitalstruktur kann dies eine Option sein. Allerdings glaube ich, dass sich das deutsche Insolvenzrecht dem Wettbewerb stellen und sich auch in Deutschland die Insolvenzpraxis mehr und mehr in Richtung internationaler Standards wie in den USA und England entwickeln wird. Dr. Sven Schelo ist Rechtsanwalt bei Linklaters in Frankfurt.Die Fragen stellte Walther Becker.