Recht und Kapitalmarkt

Genehmigtes Kapital per Gesetz ist europakonform

Rechtssichere Grundlage für die Ausgabe von neuen Aktien an den Soffin - Kritische Aktionäre können nicht verzögern

Genehmigtes Kapital per Gesetz ist europakonform

Von Christian Gehling *) Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz hat für Unternehmen des Finanzsektors, die als Aktiengesellschaft verfasst sind, per Gesetz ein genehmigtes Kapital geschaffen. Die neuen Aktien dürfen an den Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) ausgegeben werden, ohne dass die Hauptversammlung zustimmen muss. Wie jedes andere genehmigte Kapital ist das Soffin-Kapital auf die Hälfte des bestehenden Grundkapitals begrenzt. Da es einer Beschlussfassung der Hauptversammlung nicht bedarf, kann die Kapitalerhöhung aus dem Soffin-Kapital nicht von kritischen Aktionären angegriffen und verzögert werden. Die Unternehmen des Finanzsektors sollen in der Krise über eine rechtssichere Grundlage für die Ausgabe von neuen Aktien an den Soffin verfügen. Dieses Ziel ist in Gefahr: Die ersten Kommentare aus der anwaltlichen Beratungspraxis lauten, dass das gesetzliche genehmigte Kapital mit europäischem Recht nicht vereinbar sei. Der Europäische Gerichtshof habe in der Karella-Entscheidung vom 30. Mai 1991 (C-19/90 und C-20/90), in der Pafitis-Entscheidung vom 12. März 1996 (C-441/93) und zuletzt in der Kefalas-Entscheidung vom 12. Mai 1998 (C-367/96) klargestellt, dass eine Kapitalerhöhung schlechterdings nicht ohne Hauptversammlungsbeschluss denkbar sei. Das ist eine zu vorsichtige und nicht zutreffende Einschätzung. Wo liegt das Problem? Die sogenannte Kapitalrichtlinie vom 13. Dezember 1976 (77/91/EWG) schafft einheitliche europäische Regeln für die Kapitalverfassung von Aktiengesellschaften in der Union. Als einen Standard bestimmt Artikel 25 der Kapitalrichtlinie, dass die Hauptversammlung über Erhöhungen des Grundkapitals Beschluss fasst, sei es als direkte Kapitalerhöhung oder durch Schaffung eines genehmigten oder bedingten Kapitals. Es stellt sich die Frage, ob die Mitgliedsstaaten vom diesem Standard abweichen können. Artikel 25 sagt dazu nichts. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs waren zunächst zurückhaltend.Ein allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher “Vorbehalt für außergewöhnliche Situationen” sei nicht anzuerkennen. Selbst wenn die Kapitalerhöhungen “zur Sicherung des Fortbestands und der Fortsetzung des Betriebs von Unternehmens dienen, die wirtschaftlich und gesellschaftlich für das Gemeinwesen besonders wichtig sind”, sehen die Richter keine Möglichkeit für eine Kapitalerhöhung ohne Hauptversammlungsbeschluss, so die Karella-Entscheidung vom Mai 1991. In der Pafitis-Entscheidung vom März 1996 hat er dies für Aktiengesellschaften des Banksektors bestätigt. Die Kefalas-Entscheidung Eine neue Linie zeichnet sich seit der Kefalas-Entscheidung vom Mai 1998 ab. Dem Gerichtshof lag die Entscheidung der griechischen Anstalt für Unternehmensneuordnung vor, mit der die Anstalt einer börsennotierten griechischen Aktiengesellschaft eine Kapitalerhöhung verordnet hatte. Der griechische Staat hatte gegen die von zwei Aktionären erhobene Nichtigkeitsfeststellungsklage den Missbrauchseinwand erhoben. Artikel 281 des griechischen Zivilgesetzbuchs bestimme, dass “die Ausübung eines Rechts unzulässig ist, wenn dadurch die Grenzen, die nach Treu und Glauben, den guten Sitten oder dem sozialen oder wirtschaftlichen Zweck des betreffenden Rechts geboten sind, offensichtlich überschritten sind”. Auf beide Klagen treffe das zu. Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob es zulässig sei, die allgemeinen Vorschriften des Artikels 281 des griechischen Zivilgesetzbuchs über den Rechtsmissbrauch anzuwenden und damit die Berufung auf Artikel 25 der Kapitalrichtlinie abzuschneiden. Der Europäische Gerichtshof bejahte das im Grundsatz. Das griechische Gericht könne die gesetzliche Missbrauchsschranke anwenden, wenn der Missbrauch nicht allein darin gesehen werde, dass sich der Aktionär auf Artikel 25 der Kapitalrichtlinie beruft. Damit hat erstmals eine Kapitalerhöhung den Europäischen Gerichtshof passiert, die nicht von der Hauptversammlung beschlossen war. Die Entscheidung behandele, so werden die Skeptiker argumentieren, einen ganz anderen Fall als die Schaffung eines genehmigten Kapitals per Gesetz. Der Europäische Gerichtshof habe nicht über die Richtlinienkonformität des griechischen Gesetzes entschieden, das der Anordnung einer Kapitalerhöhung ohne Hauptversammlungsbeschluss zugrunde lag, sondern allein über die vorgelagerte Frage, ob der Aktionär das europäische Recht mit den Mitteln des nationalen Prozessrechts durchsetzen kann. Zu enge SichtDoch das ist eine zu enge Sicht: Mit der Kefalas-Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof anerkannt, dass den Mitgliedsstaaten unterhalb des Gemeinschaftsrechts allgemeine Rechtsinstitute zur Verfügung stehen, die zu einer Beschränkung des Aktionärsrechts führen, sich auf Artikel 25 der Kapitalrichtlinie zu berufen. Anders gewendet: Das nationale Recht genießt in Ausnahmefällen Anwendungsvorrang. Die spannende Frage lautet nun: Sind gesetzgeberische Maßnahmen zur Bewältigung einer notstandsähnlichen Krise mit gemeinschaftsweiter Bedeutung – hier: der Finanzkrise – ein solcher Ausnahmefall? Notstandsähnliche KriseDer Europäische Gerichtshof hat dazu bisher naturgemäß noch nicht entschieden. Dennoch ist klar: In einer notstandsähnlichen Krise mit gemeinschaftsweiter Bedeutung muss die gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung eines einheitlichen Standards an Aktionärsrechten – hier: der Beteiligung der Hauptversammlung an der Entscheidung über die Kapitalerhöhung – hinter dem Ziel zurücktreten, das notwendige Instrumentarium zur Bewältigung der Finanzkrise zu schaffen. Das nationale Recht kann Anwendungsvorrang für sich in Anspruch nehmen.Der nationale Gesetzgeber muss auch nicht den Umweg über die Einrichtung einer allgemeinen Rechtsausübungsschranke nehmen. Voraussetzung ist allein, dass der Mitgliedsstaat das europäische Recht in angemessener und verhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Das ist beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz der Fall: Das gesetzliche genehmigte Kapital ist auf Unternehmen des Finanzsektors beschränkt. Es ist Ultima Ratio und kann nur zeitlich befristet in Anspruch genommen werden.Bei Wiederveräußerung der übernommenen Aktien muss der Fonds den Aktionären der Gesellschaft ein Bezugsrecht einräumen. Der Vorstand der Gesellschaft hat der nächsten Hauptversammlung über die Inanspruchnahme des gesetzlichen genehmigten Kapitals zu berichten. Die Ausnutzung des gesetzlichen genehmigten Kapitals wird auf ein etwa bestehendes Kapital angerechnet. Letzte offene Fragestellungen, wie die Bezugskonditionen der Aktionäre bei Wiederveräußerung der Aktien durch den Soffin, können im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung geklärt werden. Ein striktes Verbot, zur Bewältigung der Finanzkrise ein genehmigtes Kapital gesetzlich zu schaffen, wäre übermäßig und würde dem Gemeinschaftsrecht nicht entsprechen. Als stiller GesellschafterWas folgt aus den europarechtlichen Fragen für die Praxis? Die Finanzinstitute werden wohl erwägen müssen, anstelle des neuen gesetzlichen genehmigten Kapital ein bestehendes satzungsmäßiges genehmigtes Kapital einzusetzen oder eine reguläre Kapitalerhöhung mit Bezugsrunde durchzuführen. Der Soffin könnte als Backstop-Investor zur Verfügung stehen. Das Finanzmarkstabilisierungsgesetz sorgt auch hier für Erleichterungen, etwa mit abgekürzten Einberufungsfristen. Wie die Finanzhilfe für die Commerzbank zeigt, kommt als Alternative zur Ausgabe von neuen Aktien auch die Beteiligung des Soffin als stiller Gesellschafter in Betracht. Die Hauptversammlung muss daran – auch aus europarechtlicher Sicht – nicht beteiligt werden. Wenn aber im Einzelfall eine schnelle Kapitalerhöhung notwendig ist, die stille Einlage keine Alternative darstellt und der Ausgang etwaiger Anfechtungsklagen nach einem Kapitalerhöhungsbeschluss der Hauptversammlung nicht abgewartet werden kann, kann und sollte der Vorstand das vom deutschen Gesetzgeber für diese Situation zur Verfügung gestellte Soffin-Kapital nutzen. *) Christian Gehling ist Partner von Broich Bezzenberger in Frankfurt.