RECHT UND KAPITALMARKT

Gesetz über Musterverfahren hat sich etabliert

Fester Bestandteil des deutschen Zivilprozessrechts - Kritikpunkte sind weiterhin aktuell - Ziel der Verfahrensbeschleunigung verfehlt

Gesetz über Musterverfahren hat sich etabliert

Von Anke Sessler *) Das Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) feiert dieses Jahr seinen 15. Geburtstag. In seiner gegenwärtigen Fassung wird es am 1. November 2020 außer Kraft treten. Die Geltungsdauer des Gesetzes soll jedoch nach aktuellen Plänen – ohne inhaltliche Änderungen – bis Ende 2023 verlängert werden. Das KapMuG bestimmt bei kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten, etwa wegen fehlerhafter Angaben in Börsenprospekten oder der zu späten Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen, dass bestimmte Sach- und Rechtsfragen, die für eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten entscheidungserheblich sind, einheitlich für alle Verfahren in einem Musterverfahren vor dem zuständigen Oberlandesgericht entschieden werden können. Es handelt sich dabei um den ersten Versuch des deutschen Gesetzgebers, die Entscheidung gleichgerichteter Verfahren zu bündeln, ohne das angelsächsische Konzept der Sammelklage einzuführen.Wie jeder die Quadratur des Kreises bezweckende Kompromiss – hier die Bewahrung des auf Individualklagen ausgerichteten deutschen Zivilprozessrechts, dort das Bestreben, vergleichbare Sachverhalte gemeinsam verhandeln und entscheiden zu können, – sah sich das KapMuG von Beginn an massiver Kritik ausgesetzt. Anlegerschützer monierten, dass das Gesetz lediglich die verbindliche Feststellung identischer Sach- und Rechtsfragen ermöglichte, geschädigte Anleger ihren hierauf beruhenden Schadenersatzanspruch jedoch weiterhin individuell einklagen mussten. Unternehmensvertreter warnten vor der Schaffung einer Klägerindustrie nach US-amerikanischem Vorbild und einer durch die hybride Struktur aus Individualklagen und Musterverfahren drohenden jahrelangen Prozesslawine.Trotz dieser massiven – und berechtigten – Kritik hat sich das KapMuG, das bereits 2012 einer Neufassung unterzogen wurde, in den bald 15 Jahren seines Bestehens als fester Bestandteil des deutschen Zivilprozessrechts etabliert. Der Deutsche Richterbund zählt mehr als 100 Vorlagebeschlüsse, an denen in der Regel einige hundert – in Ausnahmefällen sogar einige tausend – Kläger beteiligt sind. BlaupauseDas KapMuG diente zudem als Blaupause für die Einführung weiterer kollektiver Klagemöglichkeiten. Am 1. November 2018 trat das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage in Kraft. Dieses Gesetz sieht, ähnlich wie das KapMuG, die einheitliche Entscheidung bestimmter, für eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten identischer Sach- und Rechtsfragen vor, ist allerdings auf Verbraucherschutzstreitigkeiten beschränkt.Trotz der faktischen Bedeutung des KapMuG sind alle zu Beginn geäußerten Kritikpunkte weiterhin aktuell. Insbesondere hat das KapMuG sein bedeutendstes Ziel, die Verfahrensbeschleunigung, klar verfehlt. Die angestrebte Beschleunigung kann das KapMuG häufig schon deshalb nicht leisten, weil der Aufwand der Instanzgerichte in vielen Fällen nicht durch die behaupteten Prospektfehler, sondern durch individuelle Fallgestaltungen wie Beratungsfehler sowie Kausalitäts- und Verjährungsfragen verursacht ist. Mit anderen Worten: In vielen Fällen geht das KapMuG am Problem vorbei. Zu der erschreckenden Verfahrensdauer trägt ein Systemfehler bei: Da die Oberlandesgerichte für das Musterverfahren zuständig sind, muss der Bundesgerichtshof das Verfahren bei jedem Mangel der Sachverhaltsaufklärung an das zuständige Oberlandesgericht zurückverweisen und darf den Streit nicht etwa selbst entscheiden.Doch auch dieser Pingpong-Effekt vermag die Dauer der Verfahren nur teilweise zu erklären. Eine weitere Ursache ist die Überlastung der Instanzgerichte. Hier gibt es einen Teufelskreis: Damit das KapMuG-System effizient arbeiten kann, müssen die Instanzgerichte ihre Aufgabe des Vorsortierens, das heißt die ordnungsgemäße Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der Feststellungsziele, erfüllen, was diese aber aufgrund der hohen Zahl der Verfahren häufig nicht leisten können.Um Abhilfe zu schaffen, führte der Gesetzgeber bei der Neufassung des KapMuG einen großzügigeren Maßstab für die Aussetzung der Individualverfahren ein, den die Instanzgerichte zudem auch noch sehr weit interpretierten und Verfahren ohne eine vorherige Beweiserhebung über die entscheidungserheblichen Tatsachen zugunsten von Musterverfahren aussetzten. Zwar hat der Bundesgerichtshof im April 2019 versucht, dieser Praxis, die die Entscheidung der Individualverfahren unnötig verzögert und die Musterverfahren überfrachtet, einen Riegel vorzuschieben. Schon jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass die Instanzgerichte versuchen, die scharfen Kriterien des Bundesgerichtshofs aufzuweichen.Die lange Verfahrensdauer wöge in der Praxis nicht so schwer, wäre ein anderes mit dem KapMuG verfolgtes Ziel erreicht worden: die Förderung von Vergleichen. Tatsächlich werden nur die wenigsten KapMuG-Verfahren durch einen Vergleich beendet, obwohl – so das Kalkül des Gesetzgebers – die Bündelung der Verfahren gerade dies erleichtern sollte. Hier dürfte es sich rächen, dass die beklagten Parteien aufgrund der oben beschriebenen Praxis der Instanzgerichte das Volumen der gegen sie anhängigen und von der Entscheidung des Musterverfahrens abhängigen Ansprüche nur schwer einschätzen können. Hinzu kommt die lange absolute Verjährungsfrist für Prospekthaftungsansprüche von zehn Jahren, die einen Vergleich für die beklagten Parteien riskant macht.Trotz der genannten Kritikpunkte soll das KapMuG zumindest in den kommenden Jahren fortgelten. Dahinter steht der mittlerweile etablierte Grundkonsens, dass es einer gesetzgeberischen Regelung zur Bewältigung einer Vielzahl gleichgerichteter Klagen bedarf und dass es in Deutschland keine politische Mehrheit für eine Alternative zum KapMuG gibt. Im Einklang damit schlägt der seit kurzem vorliegende Gesetzesentwurf zur Änderung des KapMuG vor, die Geltungsdauer des Gesetzes bis zum 31. Dezember 2023 zu verlängern. Dies ist grundsätzlich eine gute Nachricht. Denn Verbraucherschützer werden nicht müde, eine Kollektivklage nach US-amerikanischem Modell zu fordern, in der einer für alle klagt – obwohl die Nachteile dieses Konzepts inzwischen hinlänglich bekannt sind.Allerdings wären – derzeit nicht geplante – inhaltliche Änderungen wünschenswert. So könnte die mangelnde Effizienz des KapMuG durch mehr “Manpower” bei den Gerichten behoben werden: Der Gesetzgeber sollte es ermöglichen, dass Richter sich durch Hilfsrichter oder wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen lassen dürfen, die Fälle nach den Instruktionen und unter der Aufsicht der zuständigen Richter vorprüfen. Auch an den Einsatz von IT – Stichwort “Legal Tech” – wäre zu denken, um die Instanzgerichte nicht zum Nadelöhr werden zu lassen. Anpassungen absehbarZumindest mittelfristig wird das KapMuG ohnehin ein Kandidat für gesetzgeberische Änderungen bleiben. Die nun geplante Verlängerung der Geltungsdauer wird damit begründet, dass Erfahrungen mit der neuen Musterfeststellungsklage für Verbraucher gesammelt und analysiert werden sollen. Diese Erfahrungen könnten dann auch zu einer Reform des KapMuG führen. Derzeit ist insbesondere das Verhältnis von KapMuG-Verfahren zu Musterfeststellungsklagen für Verbraucher nicht geregelt. Dadurch kann es im schlimmsten Fall zu parallelen Verfahren und einer weiteren Verkomplizierung der Rechtsfindung kommen. Hier ist eine klare Abgrenzung erforderlich.Darüber hinaus hat sich der Rat der EU Ende Juni 2020 auf die Einführung einer EU-Verbandsklage mittels einer Richtlinie geeinigt. Diese Richtlinie sieht – in Abweichung vom KapMuG und der deutschen Verbraucher-Musterfeststellungsklage – unter anderem die Möglichkeit vor, dass Verbraucherorganisationen im Namen von Verbrauchern Schadenersatz einklagen können. Da Richtlinien nicht unmittelbar gelten, sondern von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen, könnte sie abhängig von der konkreten Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber zu Änderungen sowohl am KapMuG als auch an der Musterfeststellungsklage führen. *) Dr. Anke Sessler ist Partnerin von Skadden, Arps, Slate, Meagher & Flom.