Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Dirk Kocher

"Gesetzgeber sollte alten Zustand im Übernahmerecht wiederherstellen"

Konzernweite Zurechnung von Stimmrechten würde Klageflut auslösen

"Gesetzgeber sollte alten Zustand im Übernahmerecht wiederherstellen"

Das Gesetz zur Umsetzung der Europäischen Übernahmerichtlinie ist jüngst in Kraft getreten. Erst kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsprozesses hatte der federführende Finanzausschuss eine gravierende Änderung vorgeschlagen. Dies hätte weit reichende Folgen. – Herr Dr. Kocher, warum gibt es so große Aufregung über die neue Zurechnungsregelung für Konzerne im Übernahmerecht?Wer mindestens 30 % der Stimmrechte an einer börsennotierten Aktiengesellschaft erwirbt, muss ein Pflichtangebot an alle übrigen Aktionäre abgeben. Stimmrechte wurden bisher innerhalb von Konzernen nur von unten nach oben zugerechnet, also von der Tochtergesellschaft zu deren Muttergesellschaft. Seit dem 14. Juli 2006 gibt es aber eine konzernweite Zurechnung auch an Tochter- und Schwestergesellschaften. – Und das bedeutet?Das bedeutet, dass theoretisch jede Gesellschaft irgendwo auf der Welt, die von einem Konzern gegründet oder erworben wird, ein Pflichtangebot machen müsste, wenn irgendeine andere Konzerngesellschaft eine 30 %-Beteiligung an einer börsennotierten Aktiengesellschaft hält. Das gilt selbst dann, wenn diese neue Gesellschaft in Wirklichkeit nichts mit der börsennotierten Aktiengesellschaft zu tun hat. – Was müssen betroffene Konzerne tun?Im Moment muss für jede neue Konzerngesellschaft ein Befreiungsantrag bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) gestellt werden. Der Befreiungsbescheid löst eine Gebühr von mindestens 3 000 Euro aus. Das führt natürlich zu einer wahren Antragsflut bei der BaFin und zu großem Aufwand bei den betroffenen Konzernen; sie müssen laufend und insbesondere vor Hauptversammlungen die gesamte Konzernstruktur überprüfen. Besonders problematisch ist die Situation dabei für Private Equity, weil hier mindestens alle Portfoliogesellschaften eines Fonds – mit ihren ganzen Töchtern – einen Konzern bilden werden. – Welche Sanktionen drohen, wenn der Befreiungsantrag versäumt wird? Wird keine Befreiung gewährt und kein Pflichtangebot gemacht, dann drohen drastische Sanktionen: Die BaFin kann ein Bußgeld von bis zu 1 Mill. Euro verhängen. Wenn das Angebot nachgeholt wird, ist ein Strafzins von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf den Angebotspreis zu zahlen. Zudem gehen für die Zeit des Verstoßes alle Aktionärsrechte des Konzerns verloren. Das sind insbesondere das Dividenden- und das Stimmrecht. Letzteres kann durch Anfechtungsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse gerügt werden; das ist ein gefundenes Fressen für Anfechtungskläger. – Ist Abhilfe in Sicht?Ja. Das Problem ist erkannt worden und soll gelöst werden. Der Rechtsausschuss des Bundesrats hat im Zusammenhang mit der Umsetzung der Transparenzrichtlinie empfohlen, die neue Zurechnung wieder abzuschaffen. Das wäre rechtlich möglich, da die Zurechnung nicht durch die Übernahmerichtlinie geboten und damit europarechtlich nicht erforderlich ist. Man kann nur hoffen, dass der Gesetzgeber so schnell wie möglich handelt und den alten Zustand wiederherstellt. – Was passiert ansonsten?Ansonsten drohen spätestens in der nächsten Hauptversammlungssaison Anfechtungsklagen, die sich auf diesen Punkt stützen. Politischen Widerstand gegen den Vorschlag erwarten wir nicht. Insbesondere wäre die BaFin kaum in der Lage, alle notwendig werdenden Anträge zu bewältigen. Allerdings kann sich die Umsetzung durch die Koppelung an die Umsetzung der Transparenzrichtlinie verzögern, bei der es noch wesentliche offene Punkte gibt. Trotzdem darf man hoffen, dass die Umsetzung vor der nächsten Hauptversammlungssaison gelingt. – Wie sollten sich betroffene Konzerne verhalten, bis der Gesetzgeber Abhilfe geschaffen hat?Befreiungen durch die BaFin haben zwar nach herrschender Auffassung Rückwirkung. Trotzdem ist es im Moment ratsam, für jede neue Konzerngesellschaft vorsorglich einen Befreiungsantrag zu stellen. Wenn besondere Gründe für die Eilbedürftigkeit vorliegen, bescheidet die BaFin solche Anträge sehr zeitnah. – Zum Beispiel? Das kann z. B. der Fall sein, wenn eine Hauptversammlung der börsennotierten Aktiengesellschaft bevorsteht und ohne die Befreiung Probleme wegen eines möglichen Stimmrechtsausschlusses drohen. Ohne Eilbedürftigkeit kann sich die Antragsbearbeitung wegen der großen Zahl von Anträgen länger hinziehen. Schafft der Gesetzgeber Abhilfe, bevor der Antrag beschieden wird, kann dieser zurückgenommen werden. In diesem Fall fällt keine Gebühr an, wenn die BaFin den Antrag noch nicht bearbeitet hat; selbst dann halbiert sich die Gebühr bei einer Rücknahme immerhin noch. – Dr. Dirk Kocher ist Anwalt bei Latham & Watkins.Die Fragen stellte Walther Becker.