RECHT UND KAPITALMARKT - IM INTERVIEW:ULRICH SIEGEMUND

Hohe Haushaltsrisiken wegen Besteuerung von Streubesitzdividenden

Verjährung der Erstattungsansprüche könnte rechtswidrig sein

Hohe Haushaltsrisiken wegen Besteuerung von Streubesitzdividenden

– Herr Siegemund, durch das Gesetz zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 sind Streubesitzdividenden, die an Körperschaften gezahlt werden, seit März 2013 steuerpflichtig. Ist damit dem EuGH-Urteil, das diese Reform veranlasste, Genüge getan?In seinem Urteil hatte der EuGH festgestellt, dass ausländische Körperschaften, die mit weniger als 10 % an einer deutschen Kapitalgesellschaft beteiligt sind, durch die Einbehaltung von Kapitalertragsteuer auf Dividenden diskriminiert wurden, da deutschen Körperschaften die Kapitalertragsteuer erstattet wurde. Diese Diskriminierung wird durch das Gesetz beseitigt. Allerdings nicht durch eine günstigere Regelung für Ausländer, sondern dadurch, dass nunmehr auch inländische Anteilseigner Steuern auf Streubesitzdividenden zahlen müssen. Für die Zukunft ist dem EuGH-Urteil tatsächlich Genüge getan.- Bedeutet das eine Enttäuschung für ausländische Anteilseigner, die über Jahre ungerechtfertigt mit Kapitalertragsteuer belastet wurden?Für Dividenden in der Zeit davor können steuerpflichtige Körperschaften aus der EU und dem EWR die Erstattung der einbehaltenen Quellensteuer verlangen. Der Gesetzgeber geht dabei wohl davon aus, dass die allgemeinen Verjährungsregeln gelten und damit die Erstattung der Steuer der letzten vier Jahre verlangt werden kann. Für Anteilseigner, die von dem neuen Gesetz profitieren, heißt das, dass 2013 ein Erstattungsantrag für Kapitalertragsteuern, die in den Jahren seit 2009 entstanden sind, gestellt werden muss. Die Erstattung von Steuern, die im Jahr 2008 oder früher abgeführt wurden, wäre danach verjährt, wenn nicht der Antrag bereits im vergangenen Jahr oder noch früher gestellt worden ist. Es könnte aber durchaus sein, dass die allgemeine Verjährung gegen EU-Recht verstößt und auch die von früher gezahlten Dividenden einbehaltenen Steuern erstattet werden müssen.- Wo sehen Sie Lücken in dem neuen Gesetz?Der EuGH hat in der Belastung mit Kapitalertragsteuer eine Verletzung des Grundsatzes der Kapitalverkehrsfreiheit gesehen. Die Kapitalverkehrsfreiheit gilt aber auch für nicht in der EU ansässige Personen. Insoweit ist das Gesetz unzureichend. Auch Ausländern außerhalb der EU muss der Anspruch auf Erstattung der Kapitalertragsteuer eingeräumt werden. Aber auch Investmentfonds, die in ihrem Heimatland von der Steuerpflicht befreit sind, wurden durch die Einbehaltung von Kapitalertragsteuer diskriminiert, denn auch inländische Investmentfonds sind steuerbefreit und werden dennoch durch die Quellensteuer nicht belastet. Der Bundesrat hat in der Stellungnahme zum Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013 vom Juli 2012 dieses “fiskalische Risiko” benannt und auf das Urteil vom 10. Mai 2012 in der Rechtssache Santander hingewiesen, in dem der EuGH die französische Quellensteuer auf Dividenden an ausländische Fonds als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gesehen hat.- Die Belastungen für den deutschen Steuerzahler durch den rückwirkend gewährten Erstattungsanspruch wurden mit 2,6 Mrd. Euro angegeben. Welche Folgen hätte die Ausweitung des Erstattungsanspruchs auf Anspruchsteller außerhalb des EWR und auf Anteilseigner, die steuerbefreit sind?Die Aktien der großen deutschen börsennotierten Aktiengesellschaften werden in großem Umfang von steuerbefreiten Investmentfonds in und außerhalb Europas gehalten. Diese Fonds stellen bereits seit mehr als drei Jahren Anträge auf Erstattung einbehaltener Kapitalertragsteuern. Wenn der deutsche Gesetzgeber durch neue EuGH-Urteile gezwungen wird, das Gesetz erneut zu ändern und diese Ansprüche zu erfüllen, werden weitere Milliarden den Haushalt und die Steuerzahler belasten.- Was sollte der Gesetzgeber tun?Der Gesetzgeber muss nicht warten, bis Deutschland vom EuGH verurteilt wird. Die europäischen Verträge sollten von der Bundesrepublik Deutschland auch ohne Verurteilung eingehalten werden. Auch wenn es schwerfällt, sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Finanzbehörden zu Unrecht gezahlte Steuern erstatten können.—-Ulrich Siegemund ist Rechtsanwalt und Steuerberater bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.