Insiderrecht soll deutlich schärfer werden
Von Nicolas Ott *)Börsennotierte Unternehmen werden womöglich mit einer deutlichen Verschärfung von Insiderrecht und Ad-hoc-Publizitätspflicht konfrontiert. Dies folgt aus den Schlussanträgen des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Dort nahm der Generalanwalt Stellung zu einer Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs (BGH). Es ging um den Fall des 2005 zurückgetretenen DaimlerChrysler-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp.Börsennotierte Unternehmen sind grundsätzlich verpflichtet, Insiderinformationen unverzüglich zu veröffentlichen. Das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) macht den Charakter einer Information als Insiderinformation insbesondere an drei Kriterien fest: Die Information muss konkret, nicht öffentlich bekannt und geeignet sein, im Fall ihres Bekanntwerdens den Aktienkurs erheblich zu beeinflussen. Als konkret gelten dabei nicht nur Informationen über Umstände, die bereits eingetreten sind, sondern auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. Hohe BedeutungDie nunmehr veröffentlichten Schlussanträge nehmen zu grundlegenden Auslegungsfragen des Insiderhandelsverbots sowie der Ad- hoc-Publizität Stellung. Zwar ist der EuGH, dessen Entscheidung im Sommer dieses Jahres erwartet wird, nicht an die Schlussanträge gebunden; gleichwohl wird diesen gemeinhin hohe indizielle Bedeutung zugemessen, da das Gericht den Empfehlungen häufig folgt.Die erste Vorlagefrage betrifft die Behandlung sogenannter gestreckter Sachverhalte. Hier hatte der BGH gefragt, ob bei einem Vorgang, der sich über mehrere Zwischenschritte erstreckt, jeder Zwischenschritt selbständig ad-hoc-publizitätspflichtig sein kann oder ob es allein darauf ankommt, wann der Eintritt des Endereignisses hinreichend wahrscheinlich geworden ist.Die praktische Relevanz dieser Frage erschöpft sich keineswegs in Personalmaßnahmen, wie sie dem vorgelegten “Schrempp”-Fall zugrunde lagen. Vielmehr kommt ihr für eine Vielzahl von unternehmerischen Sachverhalten, denen es typischerweise eigen ist, sich über mehrere Vorbereitungs- und Entscheidungsstufen hinweg dynamisch zu entwickeln, Bedeutung zu. Als Beispiel seien Unternehmensübernahmen, Kapitalmaßnahmen oder Restrukturierungsprogramme, aber auch die Erstellung von Jahresabschluss- oder Quartalszahlen genannt. Jeder ZwischenschrittDer Generalanwalt hat hierzu klar Stellung bezogen. In den Schlussanträgen wird festgestellt, dass bei gestreckten Sachverhalten jeder Zwischenschritt gesondert als konkrete und damit insiderrechtlich erhebliche Information in Betracht kommt. Legt man die vorgenannte Auffassung zugrunde, so handelt es sich bei den einzelnen Zwischenschritten eines mehrstufigen Geschehensablaufs um bereits existente und damit konkrete Informationen. Auf die Frage der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Eintritts des künftigen Endereignisses kommt es danach nicht mehr an.Würde der EuGH dieser Auslegung folgen, hätte dies erhebliche Auswirkungen für deutsche Emittenten. Wendet man die genannten Kriterien konsequent an, käme bereits die erste interne Willensbekundung, etwa der Auftrag eines Vorstandsmitglieds an die Rechtsabteilung zur Prüfung einer etwaigen Unternehmensübernahme, als potenziell insiderrechtsrelevante Information in Betracht, völlig unabhängig davon, ob die Übernahme zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bzw. vernünftigerweise zu erwarten wäre oder nicht.Die insiderrechtliche Beurteilung mehrstufiger Geschehensabläufe würde sich damit im Wesentlichen auf die Prüfung der Kurserheblichkeit verengen. Letztere soll nach dem Gesetz anzunehmen sein, wenn ein verständigter Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Die Definition lässt erahnen, dass die Feststellung der Kurserheblichkeit in der Praxis häufig mit Unwägbarkeiten verbunden ist. Gleichwohl sehen sowohl der BGH als auch der Generalanwalt davon ab, die Anforderungen an die Kurserheblichkeit im Rahmen mehrstufiger Geschehensabläufe durch die Vorgabe tauglicher Kriterien zu konkretisieren.Die zweite Vorlagefrage des BGH ist darauf gerichtet, welche Anforderungen an das Vorliegen einer “hinreichenden Wahrscheinlichkeit” zu stellen sind, um künftige Umstände zu konkreten und damit insiderrechtlich erheblichen Informationen zu machen.Während das überwiegende Schrifttum in Deutschland eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit verlangt, stellte der BGH in einer früheren Entscheidung auf das Vorliegen einer überwiegenden, also mehr als 50-prozentigen Eintrittswahrscheinlichkeit ab. Der Generalanwalt stellt nunmehr fest, dass bei zukunftsbezogenen Informationen eine hohe bzw. überwiegende Eintrittswahrscheinlichkeit nicht erforderlich ist. Vielmehr könne grundsätzlich auch eine geringere Eintrittswahrscheinlichkeit ausreichen, um den Anwendungsbereich des Insiderrechts zu eröffnen. Seien Informationen in hohem Maße kursrelevant, reiche es vielmehr aus, dass der Eintritt des künftigen Umstandes oder Ereignisses “weder unmöglich noch unwahrscheinlich, wenn auch offen” sei. Der Generalanwalt hat sich damit gegen eine starre Mindestwahrscheinlichkeit und für einen Wechselbezug zwischen Eintrittswahrscheinlichkeit und Kurserheblichkeit ausgesprochen, wie er etwa aus dem US-amerikanischen Kapitalmarktrecht bekannt ist (sogenannte Probability-Magnitude-Formel). Extensive AuslegungMit anderen Worten: Präzise beziehungsweise konkret sind alle Informationen, die erhebliche Kursrelevanz besitzen. Inwieweit eine solche Auslegung, die lediglich darauf abstellt, dass das künftige Ereignis weder unmöglich noch unwahrscheinlich ist, mit dem Richtlinienwortlaut vereinbar ist, wonach der Eintritt des künftigen Ereignisses wahrscheinlich beziehungsweise vernünftigerweise zu erwarten sein muss, erscheint dabei fraglich.Aus Sicht der Praxis werfen die Schlussanträge eine Vielzahl von Fragen auf. Bedenklich ist dabei insbesondere die dort zum Ausdruck kommende Tendenz, den Anwendungsbereich von Insiderhandelsverbot und Ad-hoc-Publizität sowohl zeitlich als auch inhaltlich durch eine extensive Gesetzesauslegung zu erweitern, ohne die insoweit relevanten Kriterien, namentlich zur Bestimmung der Kurserheblichkeit im Rahmen mehrstufiger Geschehensabläufe, näher zu konturieren. Die Folge sind erhebliche Rechtsunsicherheiten im Umgang mit insiderrechtsrelevanten Informationen.Börsennotierte Unternehmen werden, sollte der EuGH den Empfehlungen des Generalanwalts folgen, künftig vermehrt und zu einem früheren Zeitpunkt vom Instrument der Selbstbefreiung Gebrauch machen müssen. Danach kann die Veröffentlichung von Insiderinformationen aufgeschoben werden, solange dies der Schutz der berechtigten Interessen des Emittenten verlangt, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und der Emittent die Vertraulichkeit der Insiderinformationen gewährleisten kann. Das hierzu erforderliche permanente Monitoring in der Frühphase unternehmerischer Entscheidungsprozesse bedeutet für die Unternehmen nicht nur einen erheblichen administrativen Mehraufwand, sondern auch nicht unerhebliche Risiken, da die Voraussetzungen einer Selbstbefreiung durch den Emittenten eigenverantwortlich geprüft und festgestellt werden müssen.Ob der Ansatz des Generalanwalts dem Anlegerschutz tatsächlich zuträglich ist oder vielmehr, wie teilweise befürchtet, zu einem “information overload” des Markts führt, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall bedeutet die extensive Anwendung von Insiderrecht und Ad-hoc-Publizitätspflicht einen nicht unerheblichen Eingriff in die unternehmerische Handlungsfreiheit börsennotierter Gesellschaften, denen zusätzliche Restriktionen und Rechtsrisiken auferlegt werden.—-*) Dr. Nicolas Ott ist Partner bei SZA Schilling, Zutt & Anschütz. Der Anwalt hat Daimler im Zusammenhang mit insiderrechtlichen Fragen und Verfahren beraten.