RECHT UND KAPITALMARKT

Insolvenzrecht hat Anpassungsbedarf

ESUG-Evaluation deckt Änderungspotenzial und Missbrauchsfälle auf - Gläubiger im Hintertreffen

Insolvenzrecht hat Anpassungsbedarf

Von Jörn Weitzmann *)Eine starke Wirtschaft braucht ein effektives und effizientes Insolvenzrecht. Auch wenn in Deutschland beides grundsätzlich gegeben ist, hat die jüngst vorgestellte ESUG-Studie erhebliches Änderungspotenzial und Missbrauchsfälle aufgedeckt. Der Gesetzgeber hatte der Bundesregierung aufgetragen, das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) fünf Jahre nach Inkrafttreten zu evaluieren. Die Evaluation erfasst in Langfassung alle 1 609 ESUG-Verfahren im Erhebungszeitraum. Untersucht wurden nicht nur die Verfahren, sondern auch, wer in welcher Weise die Möglichkeiten des ESUG nutzt.Das Insolvenzrecht stellt in der Krise eines Unternehmens das maßgebliche Kollisionsrecht bereit. Es koordiniert die unterschiedlichen, teilweise divergierenden Ansprüche der Beteiligten. Durch seine gesetzlichen Vorgaben, Haftungsregelungen und die Möglichkeiten der Rechtsgestaltung hat es maßgeblichen Einfluss auf das vorinsolvenzliche Verhalten der Beteiligten. Widerstreitende InteressenUnter Insolvenzpraktikern ist der Grundsatz anerkannt, dass eine Insolvenz nicht vom Himmel fällt, sondern der letzte Grad einer Krise ist. Gleiches gilt für den seit langem bekannten Merkspruch, dass die besten Sanierungen früh, schnell und still erfolgen. Bei drohender Insolvenzreife ist es dem Unternehmen nicht mehr möglich, alle Verpflichtungen vertragsgemäß zu erfüllen. Die Beteiligten haben häufig widerstreitende Interessen. Ihr Verhältnis gleicht deshalb häufig einem “bellum omnium contra omnes”. Es verwundert also nicht, dass die ESUG-Studie feststellt, dass sich Gesellschafter und Geschäftsleiter zu Ungunsten der Gläubiger verhalten hätten.Um einen gerechten Ausgleich zu finden, ist die unterschiedliche Incentivierung der Beteiligten in der Krise zu berücksichtigen. Im Insolvenzverfahren werden rechtstechnisch Verluste verteilt. Volkswirtschaftlich ist es sinnvoll, diese Verluste gar nicht erst entstehen zu lassen. Eine funktionierende Rechts- und Wirtschaftsordnung muss deshalb über ein Instrumentarium verfügen, das es ermöglicht, Unternehmen rechtzeitig und umfassend zu beordnen. Die Bruchstelle zwischen Theorie und Praxis liegt in der Informationsasymmetrie. Der von einzelnen Rechts- und Volkswirtschaftlern immer wieder geforderte “Markttest” kann nur wirksam sein, wenn die Informationen transparent offengelegt werden, allen Beteiligten zur Verfügung stehen und diese diskriminierungsfreien Entscheidungen treffen können. Darauf aufbauend erfolgt eine effektive und effiziente Beordnung in Deutschland traditionell durch unparteiliche Gerichte und unabhängige Insolvenzverwalter, die als Partei kraft Amtes allen Beteiligten verantwortlich sind.Die ESUG-Studie fasst als Ergebnis die Antworten der maßgeblichen Insolvenzbeteiligten zusammen. Befragt wurden neben den insolvenzrechtlichen Verbänden und Arbeitsgemeinschaften auch zahlreiche Einzelpersonen, Finanzämter, Sozialversicherungsträger, Kreditinstitute und Versicherungen sowie Insolvenzverwalter, Gläubiger- und Schuldnerberater. Mit einer Rücklaufquote von über 40 % gibt die Studie einen empirisch gefestigten Überblick. Sie stellt fest, dass von den 1 609 benannten Verfahren, die als Eigenverwaltung gestartet sind, 37,91 % in ein Regelinsolvenzverfahren übergegangen sind und nur knapp 28,96 % nach § 258 Insolvenzordnung (InsO), das heißt mit einem bestätigten Insolvenzplan, aufgehoben wurden. In der Gesamtbewertung zeigt sich, dass Richter und Rechtspfleger dem ESUG eher skeptisch gegenüberstehen. Vorteile eines Schutzschirmverfahrens, bei dem man “den Verwalter mitbringt”, gegenüber einem Eigenverwaltungsverfahren sieht die Mehrzahl der Befragten nicht. Zur Vermeidung von Missbrauch und zur Steigerung der Effizienz wird als förderlich angesehen, die Eingangsvoraussetzungen für ein Eigenverwaltungsverfahren konkreter zu fassen und dem Gericht ein eigenes Prüfungsrecht zuzubilligen. Dem Gesetzgeber wird nahegelegt, die Anforderungen zu konkretisieren, insbesondere die Eigenverwaltungswürdigkeit genauer zu fixieren und den Weg in die Eigenverwaltung zu verschließen, wenn die Insolvenz verschleppt wurde oder das schuldnerische Unternehmen seine Pflichten nicht mehr erfüllt – insbesondere Buchführungs- und Bilanzierungspflichten, Steuererklärungspflichten oder den Sozialversicherungsbeitragspflichten nicht nachkommt.Kritisch sieht die Mehrheit der Beteiligten, dass mit der Eigenverwaltung so hohe Zusatzkosten verbunden sind, dass der Aufwand in der Eigenverwaltung insgesamt höher ausfällt als in Insolvenzverfahren mit einem Insolvenzverwalter.In der Praxis scheint sich die Frage, ob und inwieweit sich ein Unternehmen für eine Eigenverwaltung eignet, danach zu entscheiden, ob es das Know-how eines Sanierungsgeschäftsführers selbst im Organ einbinden kann oder das entsprechende Wissen von dritter Seite gestellt werden kann. Eigenverwaltungsverfahren, die umfassend als Erfolg angesehen werden, sind deshalb häufig bei größeren Einheiten anzutreffen, bei denen alle Beteiligten qualifiziert anwaltlich vertreten sind und keine Informationsasymmetrien vorhanden sind bzw. ausgenutzt werden können. Vor diesem Hintergrund ist vom Gesetzgeber auch die Frage zu beantworten, ob – wie die Befragten mehrheitlich wünschen – der Sachwalter größere Kompetenzen erhalten sollte. Ein fairer Ausgleich setzt einen unabhängigen Sachwalter voraus. Die Studie macht Missbrauchsfälle kenntlich, in welchen eine Vorberatung stattgefunden hat, die jedoch nicht offengelegt wurde.Die überwiegende Mehrheit der Befragten fordert, die Qualifikationsanforderungen an die Richter der Insolvenzgerichte zu erhöhen und mehr zentralisierte Spruchkörper für Insolvenzsachen und insolvenzbezogene Rechtsstreitigkeiten in den Bundesländern einzuführen. Außerdem sollten die Insolvenzgerichte weiter zentralisiert werden. Damit muss auch eine entsprechende sachliche und personelle Ausstattung der Insolvenzgerichte sowie der Beschwerdekammern einhergehen.Die Eigenverwaltung muss der Sachwalter überwachen. Stellt er Nachteile für die Gläubiger fest, sind diese anzuzeigen (§ 274 Abs. 3 InsO). Die Studie benennt Fälle, in welchen eine solche Nachteilsanzeige unterblieb. Sie zieht daraus den Schluss, dass durch eine Stärkung der gerichtlichen Befugnisse, der Befugnisse der Gläubigerausschussmitglieder und deren Verantwortlichkeit Anreizverzerrungen im Geflecht der beteiligten Personen angegangen werden können.Probleme werden auch im Bereich der Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht ausgemacht. Der Gesetzgeber sollte die Haftung des Geschäftsführers für die Nichtabführung von Sozial- und Steuerverbindlichkeiten klären bzw. diese Frage in den Gesamtkontext einer dringend erforderlichen Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht einbeziehen. Die ESUG-Evaluation stand auch unter dem Eindruck der Bestrebungen, ein vorinsolvenzrechtliches Sanierungsverfahren einzuführen. Es fällt auf, dass die Befragten – bei hoher Streuung – die Notwendigkeit eines vorinsolvenzrechtlichen Sanierungsverfahrens eher verneinten. StandortvorteilDem deutschen Insolvenzrecht wird in einer aktuellen Weltbankstudie ein international hervorragender vierter Platz attestiert. Dies sollte den Gesetzgeber nicht davon abhalten, den erkannten Nachbesserungsbedarf umzusetzen. Professionell durchgeführte Verfahren, die qualifizierte Berater vorbereiten und leistungsfähige, unabhängige Sachwalter begleiten, können bei einem professionellen Insolvenzgericht konzentriert werden und sorgen für gute Ergebnisse. Unabhängigkeit und Fachkunde ist das, was der Rechtssuchende beim Gang zum Gericht erwarten darf und was einen Standortvorteil für Deutschland darstellt.—-*) Rechtsanwalt Jörn Weitzmann ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung im Deutschen Anwaltverein (DAV).